02.12.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 207 / Tagesordnungspunkt 8

Susann RüthrichSPD - Familienpolitik

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir von Kindern und Familien sprechen, haben wir meistens Bilder im Kopf, naheliegenderweise der eigenen Familie. Wir alle, die wir hier sitzen, betrachten Familien oft aus unserem Blickwinkel. Das ist der Blickwinkel von Erwachsenen: von Eltern, von Großeltern, von Tanten und Onkeln – nicht der von Kindern. Das ist das Grundproblem dabei, wenn es darum geht, Kinder wirklich zu stärken: über Kinder sprechen, aber nicht mit ihnen, von der eigenen Perspektive ausgehen statt von der der Kinder, von Kindern nur als „unsere Zukunft“ zu sprechen und dabei zu übersehen, dass sie jetzt schon da sind und jetzt eigene Rechte und Bedürfnisse haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten. Wir wollen ihre Rechte endlich verbindlich und einklagbar festschreiben, und zwar im Grundgesetz.

(Beifall der Abg. Sönke Rix [SPD] und Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE])

Dafür hat sich die Justizministerkonferenz erst vor wenigen Tagen ausgesprochen. Lieber Herr Lehrieder, ich freue mich sehr darüber, dass sich jetzt auch Herr Seehofer – genau wie andere prominente Menschen aus der Union – offen dafür zeigt; denn es liegt nur noch an Ihrer Fraktion, die die Mehrheit dafür blockiert.

Sie sagen aber auch: Nur davon wird sich das Leben der Kinder in Deutschland noch nicht ändern. – Stimmt. Aber wir haben dann die Verpflichtung, die notwendigen Veränderungen umzusetzen, die Perspektive zu wechseln und so die Kinder selbst bei den Dingen, die sie betreffen, in den Mittelpunkt zu stellen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Der vorliegende Antrag geht auf einen Teilaspekt ein, nämlich den der Kinderarmut. Blicken wir also einmal nur auf die materielle Seite. Es gibt zweifelsohne viel zu tun. Ein reiches Land, in dem Kinder arm sind, das ist – um es deutlich zu sagen – peinlich. Es ist vor allem unnötig. Doch auch in diesem Antrag steht nicht das Kind im Zentrum, sondern es sind wiederum die Eltern. Das lese ich aus Sätzen wie: „Das beste Mittel gegen Kinderarmut bleibt nach wie vor die Erwerbstätigkeit beider Eltern.“ Das klingt logischer, als es ist.

Wenn wir Kinderarmut wirklich abschaffen wollen, gilt es, die vielen Stellschrauben in den Blick zu nehmen. Sie sind alle benannt worden. Jede Verbesserung in jedem der Bereiche freut uns. Mein Problem dabei ist folgendes: Nach all den mühsam erkämpften Verbesserungen im Einzelnen sind die meisten der armen Kinder immer noch arm – und deren Familien auch. Um es ganz offen zu sagen: 2 Euro Kindergelderhöhung kosten eine ganze Menge Geld, aber die armen Kinder sind danach immer noch arm. Ich finde, kein Kind in Deutschland darf arm sein, und keine Familie darf durch ihre Kinder arm werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Genau hier setzt das Konzept der Kindergrundsicherung an.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)

Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Grünenfraktion, nennen den Begriff, meinen damit aber nur die finanziellen Leistungen, die dann anders an Familien ausgereicht werden. Das ist zu kurz gesprungen.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein guter Anfang!)

Die SPD Sachsen, aus der ich komme, hat sich für den Ansatz ausgesprochen, wie er von vielen Verbänden im Bündnis Kindergrundsicherung vorgeschlagen wird.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aus guten Gründen!)

Kurz gefasst: Jedes Kind bekommt die Leistungen, die es automatisch über die Armutsschwelle hebt. Die Situation der Eltern zu verbessern, Mindestlohn, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Elterngeld – all das ist weiter nötig. Aber alles, was das Kind selbst braucht, um nicht in Armut zu leben, bekommt es auch.

Der derzeitige Wert der Armutsschwelle liegt bei etwas unter 800 Euro. Das ist das Mindestniveau der Kindergrundsicherung. Der Clou daran ist: Das Geld wird zur einen Hälfte als Einkommen an die Familien gegeben und fließt zur anderen Hälfte in Strukturen, die ein Kind braucht, um gut aufzuwachsen. Das hilft jedem Kind und jeder Familie – jeder.

Die Einkommensseite hilft vor allem den Einkommensschwachen mehr, da sie durch weniger Steuern mehr oder alles behalten. Die strukturelle Seite würde bedeuten: Kein Kind ist darauf angewiesen, dass seine Eltern etwas beantragen und Behörden dies bewilligen, sondern ein Kind geht zum Mittagessen in die Schule, nutzt den Bus, geht in den Sportverein, nimmt Nachhilfe in Anspruch – alles das können sich bedürftige Familien auch jetzt einzeln fördern lassen, dann aber rechnet der Anbieter die erbrachte Leistung ab –, fertig. So weit die Idee.

Ich höre schon die Einwände. Es fängt beim Begriff an: „Grundsicherung“ klingt wie „Grundeinkommen“. – Nein, das heißt es für mich nicht. Der Unterschied ist: Kinder können eben nicht selbst aus ihrer Armut herauskommen. Deren Armut kann nie durch eigene Leistung behoben werden. Das ist für mich der zentrale Aspekt, wenn es darum geht, wirklich vom Kind aus zu denken.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da geht etwas verloren!)

Ein weiterer Einwand lautet: Ja, aber was soll denn das kosten? – Stimmt, das müsste man einmal durchrechnen, aber bitte unter Beachtung dessen, dass auch Kinderarmut kostet: die Kinder Lebenschancen und die Familien Kraft und Zeit. Die Folgen dessen schultern wir dann alle.

Ja, das wäre ein Systemwechsel. So etwas geht nie von heute auf morgen. Er könnte aber jetzt anfangen, und zwar mit einem anderen Verständnis davon, was wir Kinderarmut nennen und wie wir sie bekämpfen, nämlich bei den Kindern direkt. Wir können bereits jetzt in Strukturen investieren und diese jedem – wirklich jedem – Kind zur Verfügung stellen. Wir können schon jetzt ein gestaffeltes – und damit für die Ärmsten ein höheres – Kindergeld einführen.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie das doch!)

Dann ist der Sprung, das System der Leistungen für die Kinder umzustellen, gar nicht mehr so groß. Ob es dann „Kindergrundsicherung“ oder anders heißt, soll mir egal sein. Hauptsache, kein Kind in Deutschland ist mehr arm.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])

Als nächster Redner hat Markus Koob für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7039123
Wahlperiode 18
Sitzung 207
Tagesordnungspunkt Familienpolitik
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