Lisa PausDIE GRÜNEN - Familienpolitik
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Ich bin heute Morgen wie immer mit meinem Sohn – er ist sieben Jahre alt – zur Kiezschule gelaufen. Wir haben über den Tag gequatscht, seine Freunde, darüber, was sie gerade spielen und was sie sich zu Weihnachten wünschen. Stellen Sie sich vor: Alle Jungen und Lucy spielen gerne Fußball – was für eine Überraschung –, und alle Kinder wünschen sich etwas von Lego. Vom Staat haben sich die Kinder nichts gewünscht. Aber ich bin mir ganz sicher: Sie wünschen sich vom Staat genau das Gleiche wie von der Lehrerin, nämlich dass sie gleich und fair behandelt werden.
(Beifall des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE])
Wenn die Kinder wüssten, was wir gestern Abend hier im Bundestag beschlossen haben – und zwar gegen die Stimmen der Grünen –, dann würden sie protestieren; da bin ich mir ganz sicher.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE])
Was wurde beschlossen? Die Koalition hat gestern beschlossen, dass die Mutter des Freundes meines Sohnes – sie ist Ausbilderin in der Pflege – ab Januar nächsten Jahres 192 Euro und damit 2 Euro mehr Kindergeld im Monat bekommt. So weit, so gut. Aber Sie haben auch beschlossen, dass ich, obwohl ich als Bundestagsabgeordnete mehr verdiene als sie, ab Januar 2017 das Doppelte bekomme, nämlich 4 Euro mehr pro Monat. Das fänden die Kinder schon sehr ungerecht. Wenn sie aber dann noch wüssten, dass ich schon jetzt für meinen Sohn jeden Monat fast 100 Euro mehr bekomme als die Mutter seines Freundes – nämlich 291 Euro statt 192 Euro –, weil ich bei meiner Einkommensteuer vom Kinderfreibetrag profitiere, dann würden die Kinder – da bin ich mir sicher – lauthals protestieren, wie ich finde, zu Recht. Das kann man keinem Kind und auch sonst niemandem erklären.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Die Behandlung der Familien in diesem Land nach dem Matthäus-Prinzip – wer hat, dem wird gegeben – muss endlich aufhören. Jedes Kind ist gleich viel wert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Deshalb fordern seit Jahren zahlreiche Organisationen wie der Kinderschutzbund, die Arbeiterwohlfahrt, Pro Familia oder die Diakonie eine Kindergrundsicherung, die unabhängig vom Einkommen der Eltern den Grundbedarf jedes Kindes deckt. Das Hauptargument dagegen ist wie immer – das wurde schon genannt – das Geld. Eine Kindergrundsicherung sei zu teuer. Deutschland gebe schon sehr viel für die Familienförderung aus. Das ist auch nicht ganz falsch. Allein 20 Milliarden Euro jährlich gehen zum Beispiel in das Ehegattensplitting. Das kommt zweifellos vielen Familien zugute. Aber leider lässt es auch immer mehr Familien außen vor: die Familien ohne Trauschein, die Patchworkfamilien, die Alleinerziehenden. In Berlin, meinem Wahlkreis, sind die Verheirateten inzwischen in der Minderheit. Das heißt, eine zentrale familienpolitische Leistung geht damit an der Mehrheit der Familien in dieser Stadt vorbei. Das ist nicht in Ordnung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Hinzu kommt: Das Ehegattensplitting verstärkt noch die Ungerechtigkeit in der staatlichen Kinderförderung, die ich eben geschildert habe; denn am stärksten profitiert davon die Alleinverdienerehe mit einem hohen Einkommen, und zwar auch, wenn die Ehe kinderlos ist. Das Ehegattensplitting fördert dagegen die ärmsten Familien, die Alleinerziehenden, überhaupt nicht. Das Ehegattensplitting verteilt von unten nach oben und auch von Ost nach West. Es ist schlicht so: Diese Familienförderung aus den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts passt einfach nicht mehr zur Realität der Familienvielfalt in Deutschland im Jahr 2016.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie des Abg. Sönke Rix [SPD])
Wir brauchen eine einkommensunabhängige Förderung, die jedes Kind direkt erreicht. Sie ist angesichts der Familienvielfalt von heute die beste Form der finanziellen Familienförderung. Sie entlastet insbesondere Familien mit kleinen und mittleren Einkommen unbürokratisch.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass eigentlich alle von Ihnen innerlich dem Satz zustimmen: Jedes Kind ist gleich viel wert. – Aber ich kenne Ihre Bedenken: Das Ehegattensplitting mit Kinderfreibetrag und Kindergeld ist doch das eingeführte System; Eheleute haben sich darauf eingestellt; Sie misstrauen einem Wechsel zu einem ganz neuen System wie der Kindergrundsicherung. Das stimmt. Deswegen möchte ich Ihnen sagen: Niemand muss wechseln. Wir garantieren Ihnen einen umfassenden Bestandsschutz; den stellen wir sicher. Das heißt, für bereits Verheiratete und Verpartnerte wird sich nichts ändern. Niemand wird schlechtergestellt.
Wir wollen in Zukunft wieder alle Familien erreichen. Wir wollen damit auch viele Familien finanziell besserstellen als heute. Dafür brauchen wir in Zukunft einen Systemwechsel durch die Einführung einer Kindergrundsicherung mit Wahlrecht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Was ist die Idee dieser Kindergrundsicherung? Unverheiratete Familien, Alleinerziehende und zukünftig heiratende Paare mit Kindern bekommen die Kindergrundsicherung und werden individuell mit einem übertragbaren Grundfreibetrag besteuert. Familien, bei denen die Eltern bereits verheiratet sind, dürfen das Ehegattensplitting mit Kindergeld und Kinderfreibetrag behalten. Sie haben einen ganz klaren Bestandsschutz. Aber wenn sie wollen, können sie zur Kindergrundsicherung wechseln, wenn sie sich zum Beispiel dadurch besserstellen. Das Finanzamt macht für jeden eine Günstigerprüfung, stellt also fest, was steuerlich für sie persönlich günstiger ist, das alte Recht oder das neue mit Kindergrundsicherung.
Bei einem Betrag von über 300 Euro pro Kind würden viele Familien gegenüber heute bessergestellt. Das wäre eine zielgenaue Entlastung von Familien in Milliardenhöhe, teilweise durch den Wegfall des Splittingvorteils gegenfinanziert.
Diese einkommensunabhängige Kindergrundsicherung wäre außerdem ein Beitrag zum Bürokratieabbau; denn sie würde Kinderregelsatz, Kindergeld und Kinderfreibetrag zu einer Leistung zusammenführen. Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, verehrte Bürgerinnen und Bürger, kann ich dann auch wieder meinem Sohn und seinen Freunden erklären.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Wir hatten schon einen Bundespräsidenten, der mit seiner Patchworkfamilie im Schloss Bellevue einzog. Wir haben derzeit einen Bundespräsidenten, der in wilder Ehe dort residiert.
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Wie das klingt!)
Lassen Sie uns endlich auch eine Familienförderung beschließen, die quer durch alle Einkommensschichten zu der Familienvielfalt im Jahr 2016 passt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Paul Lehrieder hat als nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7039130 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 207 |
Tagesordnungspunkt | Familienpolitik |