16.02.2017 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 218 / Tagesordnungspunkt 10

Franz ThönnesSPD - Deutsche Ostpolitik

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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Wort „Ostpolitik“ ist untrennbar mit dem Namen von Willy Brandt verbunden. Aber nicht jeder Versuch, eine Kopie anzufertigen, gelingt. Eine der lateinischen Inschriften auf dem weltbekannten Lübecker Holstentor, in der Geburtsstadt Willy Brandts, lautet: „Concordia domi, foris pax“ – „Eintracht drinnen, draußen Friede“. Dies und seine politischen Maximen des Gewaltverzichts, des Dialogs, des Kompromisses sowie eine Politik eingebettet in die NATO-Philosophie aus dem Bericht des einstigen belgischen Außenministers Harmel, wonach Sicherheit als die Summe von Verteidigung und Entspannung begriffen wurde, leiteten ihn und Egon Bahr bei der Entwicklung ihrer Ostpolitik. Letzterer stärkte diese mit dem Satz: Amerika ist unverzichtbar, Russland ist unverrückbar. Damit war klar: Zusammenarbeit mit den USA und nachhaltige Sicherheit für Europa gibt es nicht ohne und schon gar nicht gegen Russland.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!)

Die Ostpolitik nach diesen Leitlinien hat über die Kanzlerschaften von Helmut Schmidt und Helmut Kohl letzten Endes zur deutschen Einheit beigetragen. Da diese Prinzipien auch heute noch richtig sind, gilt es nicht, eine neue Ostpolitik zu entwickeln und damit so zu tun, als sei die bisherige alt, sondern es gilt, auf diesen Prinzipien eine für die heutigen Bedingungen zeitgemäße Ostpolitik zu formulieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die ehemalige Geopolitik besteht nicht mehr. Damals standen sich zwei Systeme gegenüber. Zwei Großmächte standen sich gegenüber. Bipolarität ist mittlerweile zur Multipolarität geworden. Die Systemkonkurrenz hat sich aufgelöst. Wir leben nicht mehr in einer Welt mit zwei Blöcken. Sie ist komplexer geworden. Die heutigen Konkurrenzen bestehen vielmehr zwischen Staaten mit demokratischen, autokratischen und totalitären Systemen sowie zwischen internationaler Kooperation und nationalistischer Abschottung.

Deutschland und Europa waren damals geteilt. Diese Spaltung konnte glücklicherweise überwunden werden. Zahlreiche mittel- und osteuropäische Staaten, darunter die baltischen Länder, sind inzwischen Mitglied der EU und der NATO geworden, haben von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch gemacht. Für diese Länder ist dieser Schritt untrennbar mit dem Streben nach Freiheit, nach Demokratie, nach Wohlstand und nach Sicherheit verbunden.

Aus der Sowjetunion wurde das heutige Russland. Es hat mit der Pariser Charta von 1990 die in der Grundakte von Helsinki enthaltenen Prinzipien übernommen, denkt aber weiterhin in Einflusssphären. Die seit den 90er-Jahren bestehende europäische Friedensordnung wurde 2012 durch die von Russland vorgenommene Annexion der Krim sowie durch sein Vorgehen in der Ostukraine bewusst verletzt.

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Lage und der aktuell noch nicht ganz klar erkennbaren Positionierung Washingtons nach der Präsidentschaftswahl bedeutet der Satz im Lübecker Holstentor auch heute nichts anderes als: Wer draußen Frieden sichern will, der muss im Innern dafür sorgen und muss sich darum kümmern, dass EU und NATO zusammenstehen, dass Union und Bündnis innere Eintracht zeigen,

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

dass alle dabei sind, wenn es darum geht, europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu praktizieren, und dass auch heute den neuen Mitgliedsländern die gleiche Sicherheit gegeben werden muss, wie sie uns über 40 Jahre widerfahren ist.

Ebenso gilt dabei, dass wir nicht der Versuchung unterliegen dürfen, uns in einem neuen Kalten Krieg einzurichten, in dem zwar die Fronten geklärt werden, der politische Dialog jedoch durch die Logik des Militärischen überlagert wird. Eine allein auf den Nationalstaat reduzierte Außenpolitik schwächt die Eigeninteressen und wird nicht zur gemeinsamen Sicherheit führen. Zeitgemäße Ostpolitik heißt, heute für uns eine europäische Ostpolitik zu entwickeln; denn nur sie kann wirklich zu einer europäischen Friedenspolitik führen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Elisabeth Motschmann [CDU/CSU])

Für Deutschland bedeutet dies, sich orientiert an seinen Interessen in den Bündnissen für deren Stärkung und eine kluge Politik einzusetzen. Die bewährten Instrumente deutscher Außen- und Sicherheitspolitik haben damit weiter ihre grundlegende Bedeutung: Fähigkeit zu Kompromiss und Konsens, Kooperation statt Konfrontation, Dialog und eine auf Werten basierte Politik, die auch die Interessen anderer Staaten berücksichtigt.

Kluge Ostpolitik heißt ebenso, Russland wieder dazu zu gewinnen, zu einem kooperativen Politikansatz zurückzukommen. Wichtig wären gerade jetzt wahrnehmbare Töne aus Russland, die deutlich machen, dass man auf ein Europa des Miteinanders und nicht auf ein Europa des Gegeneinanders setzt.

Im europäischen Haus gilt es, orientiert an den Haus­ordnungen aus Helsinki und Paris, wieder den Hausfrieden herzustellen. Zuallererst geht es darum, Minsk umzusetzen. Damit würde der Weg zu einer friedlichen europäischen Hausgemeinschaft geebnet, in der anerkannt wird, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken inzwischen selbstständige Subjekte des Völkerrechts sind. Hierzu ist ein gemeinsamer Sicherheitsdialog mit Russland und seinen Nachbarn notwendig. Es sind auch unsere Nachbarn. Es geht darum, eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur zu entwickeln, zu der Egon Bahr im Januar 2015 sagte:

Da darf kein Staat durch den Rost fallen. Jeder Staat muss die gleiche Sicherheit haben.

Nur so kann – vielleicht unter dem Dach der OSZE – ein Mechanismus gefunden werden, der sowohl Bedrohungs- wie Aggressionsbefürchtungen vermindert. Dazu gehört auch die Einhaltung bestehender Abrüstungszusagen. Dazu gehört auch die Diskussion über neue Abrüstung, Transparenz und Kontrolle.

Der Grundtenor des Antrages der Linken ist leider sehr national ausgerichtet. Er fordert einen Alleingang durch den Austritt aus der NATO. Er wird eher zu Unsicherheit führen: in Europa und für uns. Er wird keine neue Sicherheit bringen. Er kann nur Ablehnung finden.

So passt am Ende ein Satz Willy Brandts, den er im September 1968 in einem Interview mit dem Spiegel kurz nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei sagte:

Es kommt nicht darauf an, möglichst starke Worte zu gebrauchen. Und es kommt nicht darauf an, herauszufordern. Es kommt nicht darauf an, Gemütsbewegungen zu befriedigen. Es kommt darauf an, eigene Interessen zu wahren und das, was man will, einzubetten in Interessen, die möglichst viele andere auch haben.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Macht das doch!)

Also: Ostpolitik europäisch denken, wertebasiert, realistisch und multipolar, Bündnisse zusammenhalten, so viel Sicherheit wie notwendig und so viel Kooperation und Dialog wie möglich.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: So viel habt ihr lange nicht mehr über Ostpolitik geredet!)

Der Kollege Karl-Georg Wellmann spricht jetzt für die CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7073682
Wahlperiode 18
Sitzung 218
Tagesordnungspunkt Deutsche Ostpolitik
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