09.03.2017 | Deutscher Bundestag / 18. EP / Session 221 / Tagesordnungspunkt 3

Volker KauderCDU/CSU - Regierungserklärung zum Europäischen Rat

Loading Interface ...
Login or Create Account






Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenige Wochen vor dem wichtigen Jubiläum der Unterzeichnung der Römischen Verträge, die dieses Europa so bedeutend gemacht haben, müssen wir feststellen, dass dieses Europa in keinem guten Zustand ist. Es liegt nicht an Europa, an den europäischen Institutionen, dass dieses Europa in keinem guten Zustand ist. Vielmehr sind es die Mitgliedstaaten, die dieses Europa in diese schwierige Situation bringen. Wenn wir darüber sprechen, was sich in Europa verändern muss, kann sich der Blick deswegen nicht nur auf Kommission und Europäisches Parlament richten, sondern er muss sich natürlich auch automatisch auf einzelne Staaten in Europa richten.

(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Zum Beispiel Deutschland!)

Insofern ist es natürlich nicht ganz einfach, von diesem Pult aus, von diesem Parlament aus, vonseiten dieser Regierung öffentlich wohlfeile Ratschläge zu erteilen. Das alles macht es nicht ganz so einfach, Herr Özdemir, von diesem Pult aus zu etwas aufzufordern. Es ist richtig, dass wir in Europa miteinander gemeinsame Positionen vertreten müssen. Genauso wichtig ist aber, dass wir alle mitnehmen. Ständige öffentliche Belehrungen sind dabei nicht hilfreich, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Was ist stattdessen zu tun? Es sind gemeinsame Projekte zu entwickeln, um diesem Europa wieder Mut, Zuversicht und Kraft zu geben. Bei diesem gemeinsamen Entwickeln von Zukunftsprojekten ist es gerade die Bundesrepublik Deutschland, die immer wieder neue Ideen einbringt. Herr Özdemir, wenn Sie genau zuhören würden, hätten Sie gehört, dass die Bundeskanzlerin nicht gesagt hat: „Hauptsache, Deutschland geht es gut“, sondern dass sie auf genau diese Abhängigkeit zwischen der guten Situation in Deutschland und der guten Situation in Europa hingewiesen hat – ich zitiere jetzt ihren Satz –:

Das ist … gar nicht hoch genug einzuschätzen in seiner Bedeutung, weil natürlich zwischen einer guten Zukunft bei uns in Deutschland und einer guten Zukunft in Europa ein direkter Zusammenhang existiert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Damit ist klar ausgedrückt worden, dass wir genau wissen, dass wir nur gemeinsam, miteinander, in diesem Europa vorankommen können. Aber damit muss auch klar sein, dass es gemeinsame Grundsätze geben muss. Wenn wir davon sprechen, dass es in Europa Herausforderungen gibt, beispielsweise die Jugendarbeitslosigkeit, beispielsweise die Arbeitslosigkeit, beispielsweise Wachstum, dann muss man sich auch fragen: Warum läuft es in einigen europäischen Ländern schlecht, und warum läuft es vor allem in Deutschland gut? Da haben Sie doch in Ihrer Regierungszeit etwas getan, was in Ordnung war. Insofern kann man fragen: Wo liegt der Unterschied? In Deutschland sind die Reformen gemacht worden, die notwendig waren, um wieder Wachstum zu bekommen und um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Diese sind in anderen Ländern eben nicht gemacht worden.

(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Absolut!)

Wer dieses Erfolgsmodell – die Reformen, die gemacht worden sind – jetzt wieder zurückdrehen will, der sollte sich anschauen, wie das Ergebnis in den europäischen Ländern ist, in denen solche Reformmaßnahmen nicht durchgeführt worden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich rate dazu, in Europa nicht nach dem Motto zu verfahren:

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ein Unsinn!)

Wir müssen nur ein bisschen mehr Geld in den Ausbildungsmarkt hineinwerfen, dann wird es besser. – Ich sage Ihnen: Das Erfolgsmodell der beruflichen Ausbildung in Deutschland ist das duale Ausbildungssystem. Sie können den Ländern in Europa noch so viel Geld geben. Wenn das System der dualen Ausbildung nicht kommt, wird das keinen Erfolg haben. Deswegen sind Reformmaßnahmen, neue Strukturen, die den Herausforderungen der Zeit gerecht werden, von zwingender Notwendigkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Natürlich ist klar: Dieses Europa muss sich den neuen Herausforderungen stellen. Es muss Antworten auf die wirtschaftliche Entwicklung finden;

(Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])

es muss aber auch Antworten auf die außenpolitischen Herausforderungen finden. Ich gehe einmal davon aus, Frau Bundeskanzlerin, dass auf dem anstehenden Gipfel über diese Fragen gesprochen wird.

Es ist notwendig, dass wir in Europa eine gemeinsame Linie in der Flüchtlingspolitik finden. Man braucht sich nicht zu wundern, dass es wie in Ungarn zu Fehlentwicklungen kommt, wenn die Europäische Union nicht in der Lage ist, hier eine gemeinsame Antwort zu finden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese gemeinsame Antwort muss natürlich heißen: Solidarität. Zur Solidarität gehört, dass man Griechenland und Italien mit diesem Problem nicht alleinlässt, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])

Beide können das alleine nicht leisten. Nach dem Motto zu leben: „Hauptsache, sie kommen in Griechenland und Italien an; der Rest interessiert uns nicht“, wird uns nicht helfen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Deswegen muss Europa eine Antwort auf diese konkrete Herausforderung finden.

Ich bleibe dabei: Nationale Egoismen dürfen in Europa nicht dazu führen, dass wir die notwendigen Aufgaben nicht lösen. Die Sicherung der gemeinsamen Außengrenze ist dann nicht mehr nationale Aufgabe, wenn das Ergebnis ist, dass eine Sicherung nicht stattfindet. Dann brauchen wir eine europäische Grenzsicherungspolizei, die genau diese Aufgabe erfüllt. Wenn die Sicherung der gemeinsamen Außengrenze nicht gelingt, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn der eine oder andere zu der Meinung kommt: Dann überlegen wir, ob wir die Sicherung nicht doch national machen müssen. – Das wäre genau die falsche Reaktion für ein offenes und freies Europa.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD])

Deswegen muss die europäische Grenzsicherung vorankommen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich hat die Europäische Union die Aufgabe, die Werte, die in Europa gelten, zu vertreten und dafür zu sorgen, dass sie auch eingehalten werden. Das gilt für europäische Länder wie Polen oder Ungarn, auf die wir mit einiger Sorge schauen, aber natürlich auch für Länder, die sich in dem Prozess befinden, sich stärker an Europa zu orientieren und vielleicht ganz nach Europa zu kommen. Hier gilt der Grundsatz: Wer nicht bereit ist, die Werte Europas, zu denen Freiheit, Religionsfreiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit gehören, für sich zu akzeptieren, der ist meilenweit von der Wertegemeinschaft Europa entfernt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Özdemir: Wir von der Union haben immer davon gesprochen – nie etwas anderes gesagt –, dass wir eine besondere Beziehung Europas zur Türkei wollen. Wir haben immer von der Privilegierten Partnerschaft gesprochen. Wenn man uns vorwirft, dass wir einen Kurswechsel vorgenommen haben, dann muss man feststellen: Das trifft auf Sie zu, weil Ihnen die jetzige Situation nicht passt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir hatten immer eine klare Position in dieser Frage. Ich muss Ihnen, weil Sie vorhin etwas lässig über das C gesprochen haben, einmal sagen: Seit mehr als einem Jahrzehnt sind meine Fraktion und ich ganz persönlich bei dem Thema Religionsfreiheit unterwegs; das wird ja auch von Ihnen nicht bestritten. In diesen zehn Jahren und auch schon davor, als Sie eine rot-grüne Regierung gebildet haben, hat sich an der Situation der Christen in der Türkei nichts fundamental verändert – null hat sich verändert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber damals, als Sie an der Regierung waren, konnte ich nicht feststellen, dass Ihnen das ein besonderes Anliegen war.

Ich kann nur sagen: Wir haben immer darauf gedrängt, dass wir mit der Türkei keine weiteren Verhandlungskapitel eröffnen, bevor nicht das Kapitel „Menschenrechte, Rechtsstaat, Religionsfreiheit“ eröffnet wird.

(Zuruf von der LINKEN: Das haben Sie doch!)

– Nein, das ist eben nicht geschehen. – Dazu haben wir aber nicht unbedingt Zustimmung von allen anderen bekommen.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Eben!)

Ich will die Namen derjenigen, die das verhindern wollten, gar nicht nennen.

Trotzdem bleibe ich dabei – das ist meine Botschaft an die türkische Regierung –: Ihr braucht den Mund nicht so voll zu nehmen, solange ihr nicht bereit seid, ein Grund­element von Freiheit, nämlich Religionsfreiheit, in eurem Land zuzulassen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Nicht wir in Deutschland haben Angst vor der Meinungsfreiheit; wir können ertragen, was da einige Regierungsmitglieder sagen. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Türkei hat Angst vor der Meinungsfreiheit, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das muss immer wieder deutlich gemacht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich muss auch fragen: Wie stellt der türkische Präsident sich das denn vor? Er sagt: Ich will nach Deutschland kommen, und wenn ich nicht reinkomme, gibt es einen Riesenaufstand; ich will da reden. – Da muss ich sagen: Uns passt manches nicht, was da gesagt wird. Trotzdem finde ich es richtig, dass wir darauf reagieren und sagen: Bei uns gilt die Redefreiheit; ihr könnt kommen. – Aber im gleichen Atemzug verlange ich, dass wir in der Türkei auch überallhin können, beispielsweise nach Incirlik, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Den Mund voll zu nehmen und zu sagen: „Ich will nach Deutschland kommen“, aber uns die Reise nach Incirlik zu verbieten, das geht überhaupt nicht. Das muss man denen mal sagen.

Jawohl, ich finde es völlig in Ordnung, wenn Herr Erdogan oder auch andere in Deutschland sprechen wollen. Ich würde aber erwarten, dass wir dort auch einmal hingehen und lautstark sagen, was wir im Hinblick auf bestimmte Verhaltensweisen in der Türkei erwarten.

(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nehmen Sie mich mit!)

Ich bin sehr gespannt, ob Herr Erdogan das ertragen kann oder nicht. Da würde ich die Reisefreiheit für Abgeordnete, die Religionsfreiheit, die Ausbildung von Priestern für die griechisch-orthodoxe Kirche und vieles andere mehr nennen. Im Übrigen würde ich auch sagen: Ein Land, dessen Repräsentanten sich so verhalten wie Erdogan, braucht sich nicht zu wundern, wenn der Tourismus zurückgeht. In einem solchen Land wollte ich auch nicht Urlaub machen, meine sehr verehrten Damen und Herren,

(Beifall bei der CDU/CSU)

um das auch einmal klar und deutlich zu sagen.

(Zuruf von der LINKEN: Billiger Populismus!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ja, dieses Europa hat große Aufgaben vor sich, und es gibt eine Reihe von Problemen. Trotzdem finde ich, dass wir vor diesen Schwierigkeiten nicht kapitulieren dürfen. Wir müssen dieses Europa nicht nur als Wertegemeinschaft, sondern auch als Schicksalsgemeinschaft begreifen. Dieses Europa hat uns Freiheit, Frieden und Wohlstand gebracht. In diesem Europa haben wir immer wieder einmal Herausforderungen und auch schwierige Situationen gehabt. Aber für dieses Europa werden wir überall in der Welt beneidet. In Asien sagen sie: Wir wären froh und dankbar, wenn wir eine solche Einrichtung wie ihr in Europa hätten.

Ich kann nur sagen: Allein für die mehr als 70 Jahre Frieden in Europa haben wir Grund jeden Tag dankbar zu sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aus dieser Dankbarkeit heraus erwächst für uns die Verpflichtung, alles zu tun, damit wir alle miteinander in diesem Europa weiter in eine friedliche und gute Zukunft hineinwachsen können.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)


Data
Source Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Cite as Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Retrieved from http://dbtg.tv/cvid/7082509
Electoral Period 18
Session 221
Agenda Item Regierungserklärung zum Europäischen Rat
00:00
00:00
00:00
00:00
None
Automatically detected entities beta