09.03.2017 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 221 / Tagesordnungspunkt 3

Gunther KrichbaumCDU/CSU - Regierungserklärung zum Europäischen Rat

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dem bevorstehenden Gipfel steht nicht nur die wirtschaftliche Lage in Europa auf dem Programm, sondern auch – das klang schon mehrfach an – das Vorbereitungstreffen „60 Jahre Römische Verträge“. Es lagen zwei bestialische Weltkriege hinter Europa. Wenn man die Schwierigkeiten bedenkt, vor denen damals die Gründungsväter der heutigen Europäischen Union standen, dann wird man geradezu demütig, wenn man die Schwierigkeiten sieht, die – ohne jeden Zweifel – heute vorhanden sind. Man war sich aber in einem einig. Weil wir die Inhumanität hinter uns lassen wollten, haben wir die Gemeinschaft auf den Grundsätzen der Humanität gegründet. Daran müssen wir uns messen lassen. Und daran müssen sich auch gerade in diesen Tagen manche Länder der Europäischen Union messen lassen.

Eines, lieber Cem Özdemir, bedarf der Korrektur. Ohne jeden Zweifel hat sich 1946 Winston Churchill für die Vereinigten Staaten von Europa ausgesprochen, aber – das ist eines der großen historischen Missverständnisse – ohne die Beteiligung von Großbritannien.

(Dr. Fritz Felgentreu [SPD]: Leider wahr!)

Vielmehr sollte Frankreich die Aufgabe übernehmen, Deutschland unterzuhaken, damit es nicht mehr auf dumme Ideen kommt.

Aber eines ist doch hervorzuheben, nämlich der Mut von Charles de Gaulle, Konrad Adenauer und vor allem Robert Schuman; denn man hatte sich dazu entschlossen, das Ganze ohne ein Referendum zu machen. Ich glaube, ich brauche hier in dieser Runde nicht zu sagen, wie ein Referendum in Frankreich wenige Jahre nach dem Krieg ausgegangen wäre, wenn man gefragt hätte: Wollt ihr gemeinsam mit Deutschland in eine Gemeinschaft zur Verwaltung kriegswichtiger Güter, nämlich Kohle und Stahl, eintreten? Ich glaube, jedem ist klar, wohin das geführt hätte.

Es ist genau dieser Mut, der in Großbritannien gefehlt hat. Cameron hat gerade keinen Mut bewiesen, sondern den Kotau vor seinen eigenen Fraktionsmitgliedern gemacht, als er ein Referendum, für das es überhaupt keine Veranlassung gab, vom Zaun gebrochen hat. Das hat zu einem europäischen Schlamassel geführt. Deswegen gilt das jetzt geradezu sinnbildlich für die Brexit-Verhandlungen; das können wir den britischen Freunden zurufen.

Für meine Begriffe gilt hier ein altes afrikanisches Sprichwort: Wenn du schnell gehen willst, dann geh alleine. Aber wenn du weit gehen willst, dann geh gemeinsam. – Das zeichnet auch die Europäische Union angesichts der Schwierigkeiten, vor denen wir im Zeitalter der Globalisierung stehen, aus.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir stehen heute in der Tat vor vielen Herausforderungen. Ich will jetzt nicht näher – das würde das Zeitbudget sprengen – auf die fünf Vorschläge von Jean-Claude Juncker eingehen. Ja – das hat die Bundeskanzlerin ausgeführt –, wir werden künftig sicherlich einen Schwerpunkt darauf setzen müssen, das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit stärker zu nutzen. In der Tat müssen wir bei der europäischen Integration in vielen Punkten vorangehen. Aber eines bleibt festzuhalten: Wir sind immer nur als Europäische Union stark. Wir müssen aufpassen, dass es nicht zu einer Fragmentierung der Europäischen Union kommt. Aber eines ist auch wahr: Im Zeitalter der Globalisierung müssen wir enger als früher zusammenarbeiten.

Eine der großen Herausforderungen sind jetzt die USA; das ist wahr. Das hätten wir uns vor wenigen Monaten noch nicht träumen lassen. Ich erinnere an Henry Kissinger, den früheren amerikanischen Außenminister, der einmal sagte: Europa? Welches Europa? Sagt mir doch einmal die Telefonnummer von diesem Europa! – Ich frage umgekehrt: Welche Telefonnummer haben in diesen Tagen eigentlich die USA? Wir brauchen in der Tat Verlässlichkeit im transatlantischen Bündnis. Dieses transatlantische Bündnis ist viel zu wertvoll, als dass es nationalen Politiken zum Opfer fallen darf.

(Beifall des Abg. Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers [CDU/CSU])

Einen Aspekt, der heute noch gar nicht Gegenstand der Debatte war, möchte ich ansprechen: die Verhältnisse in der Ukraine. Außenminister Gabriel hält sich heute zu Gesprächen in Moskau auf. Er hat sicherlich unsere Unterstützung, wenn einmal mehr darauf hingewiesen wird, dass das, was in der Ukraine geschieht, völlig inakzeptabel ist. Die Krim-Halbinsel ist bis zum heutigen Tage völkerrechtswidrig annektiert. Im Osten des Landes sorgt Russland für eine systematische Destabilisierung. Nein, wer im 21. Jahrhundert Krieg als ein Instrument der Politik begreift, darf sich nicht wundern, wenn er in die Politik zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückfällt. Ich glaube, das müssen wir Herrn Putin ziemlich deutlich sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Türkei war schon mehrfach Gegenstand der Debatte. Es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass sich Herr Erdogan hier in Deutschland auf die Grundrechte beruft, etwa auf das Recht der freien Meinungsäußerung, die er den Menschen im eigenen Land verweigert. Ich glaube – da habe ich vielleicht eine andere Meinung als die meisten hier –, alles hat seine Grenzen. Es fängt damit an, dass Repräsentanten des türkischen Staates hier keine Grundrechtsträger sind;

(Beifall des Abg. Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU])

Kollege Röttgen hat kürzlich in einer Fraktionssitzung auf diesen Umstand hingewiesen.

(Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Fraktionssitzung ist intern!)

Grundrechte sind Abwehrrechte des Bürgers, und zwar der deutschen Bürger, gegenüber dem Staat. Aber sie kommen für Repräsentanten eines anderen Staates nicht infrage. Deswegen muss klar sein: Natürlich sind uns die Repräsentanten der türkischen Regierung jederzeit willkommen, aber nicht als Wahlkämpfer. In diesem Moment werden wir parteiisch und werden in Wahlkämpfe hineingezogen.

Bei all dem sollten wir immer das Ende bedenken. Wollen wir in Zukunft auch Herrn Putin einen freien Auftritt gewähren oder auch vielen anderen? Es wäre gut, innerhalb der Europäischen Union Leitlinien zu entwerfen und einen Konsens dazu zu finden, wie wir insgesamt damit umgehen. Ich glaube, es bedarf hier einer europäischen Antwort. Mit Blick auf die Anwürfe, die in jüngster Zeit in Richtung Bundesrepublik Deutschland erhoben wurden, hat mir eine schlüssige, vehemente und dezidierte Antwort der Europäischen Kommission gefehlt; das darf ich an dieser Stelle einmal sagen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich glaube mit Blick auf die Türkei aber auch: Die Not muss natürlich schon ziemlich groß sein, wenn Repräsentanten der türkischen Regierung glauben, sie müssten unbedingt auch noch die Stimmen der Auslandstürken einwerben, weil man innerhalb der Türkei um die eigene Mehrheit fürchtet. Da ist es sicherlich schon weit gekommen. Die wirtschaftliche Situation, in der sich die Türkei im Augenblick befindet, ist dramatisch. Da steht Herr Erdogan sicherlich unter einem viel größeren Druck, als wir das hier manchmal wahrnehmen.

60 Jahre Römische Verträge, das ist eine große Chance für uns. Im Rückblick können wir auf der einen Seite dankbar sein. Wir haben nämlich eine beispiellose Periode des Friedens in Europa. Auf der anderen Seite ist es aber auch eine Verpflichtung, das Modell der Aussöhnung auf andere Länder und andere Regionen Europas zu übertragen; denn auch die Staaten des westlichen Bal­kans sind ja Gegenstand des Gipfels. Hier können das europäische Modell, die deutsch-französische Aussöhnung sehr wohl Pate stehen für eine Aussöhnung, die wir in dieser Region noch brauchen, um zu einem Mehr an Stabilität zu finden.

Eines – das sei abschließend gesagt – ist auch in diesen Staaten wichtig – darum kommen sie nicht herum –, nämlich die kritische Selbstreflexion auf die eigene Geschichte; denn ohne diese Auseinandersetzung wird das Ganze nicht funktionieren. In diesem Sinne haben wir ein großes Interesse daran, diesen Staaten zu helfen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vielen Dank, Gunther Krichbaum. – Nächste Rednerin: Michelle Müntefering für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7082518
Wahlperiode 18
Sitzung 221
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung zum Europäischen Rat
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