Michelle MünteferingSPD - Regierungserklärung zum Europäischen Rat
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Als Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe im Bundestag sage ich Ihnen sehr klar und deutlich: Das deutsch-türkische Verhältnis geht derzeit durch eine seiner heikelsten Phasen. Darum ist mir der Dank an die Mitglieder und den Vorstand der Parlamentariergruppe wichtig, die in diesen herausfordernden Zeiten über die Fraktionsgrenzen hinweg an einem guten Verhältnis zwischen Deutschen und Türken arbeiten und dabei auch deutlich Kritik üben, zuletzt bei unserem gemeinsamen Besuch in der Türkei vor wenigen Wochen.
Ich empfinde die Verschlechterung unserer Beziehungen als Katastrophe. Deutschland und die Türkei sind über Jahrzehnte einander verbunden, wirtschaftlich, kulturell, familiär. Binnen weniger Monate ist die türkische Gesellschaft hier wie dort gespalten – in einer Zeit, in der es so wichtig ist, Vorurteile auch gegenüber der Türkei als mehrheitlich muslimischem Land zu überwinden. Und, Herr Kauder, die Türkei ist mehr als Erdogan, die Türkei ist auch ein schönes Land.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es ist gut, dass Frau Merkel diese unsäglich geschichtsvergessenen Unterstellungen zurückgewiesen hat. Das war Zeit, das war nötig.
Die letzte Reise von Frau Merkel in die Türkei wurde positiv aufgenommen, auch weil sie endlich die Opposition getroffen hat. Das haben wir als Sozialdemokraten ihr schon lange geraten. Ich ermutige die Frau Bundeskanzlerin, bei der nächsten Reise – dann hoffentlich nach dem Referendum – auch die Zivilgesellschaft zu treffen. Das ist Zeit, und das ist nötig.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich verstehe all jene bei uns gut, die es kaum ertragen, dass türkische Minister hier Wahlkampf für ein Referendum machen, das die Macht in die Hand eines Mannes legt, während wichtige Teile der Opposition inhaftiert sind und kritische Journalisten drangsaliert werden. Auch die Venedig-Kommission prangert dies nun an.
Die Wahrheit ist meistens einfach: In einem Land, in dem ich die Zeitung aufschlage und in der es keine Kritik an der Regierung gibt, in diesem Land muss es einen Grund für Kritik an der Regierung geben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich bin froh, dass wir uns als Parlamentariergruppe gemeinsam für eine OSZE-Wahlbeobachtermission und für die Freilassung Deniz Yücels und der anderen Journalistinnen und Journalisten einsetzen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Dass wir zusammenstehen, ist ein wichtiges Signal auch an die Türkei; denn wir bewegen uns zwischen der außenpolitischen Betrachtung, den eigenen, deutschen Interessen und unserer moralischen Verantwortung. Der außenpolitische Blick zeigt: Strategisch braucht Erdogan die Stimmen der Nationalisten und Rechten. Der Ausgang des Referendums ist durchaus offen. Bis zum 16. April wird jede Provokation genutzt werden. Aber es ist denkbar, dass er sich mit seinem Anti-EU-Kurs verrennt, ebenso wie schon mit seiner Syrien-, Russland- oder Israel-Politik in der Vergangenheit. Aber diesmal steht alles auf dem Spiel, und das müssen wir wissen.
Unsere Interessen sind der soziale Frieden in Deutschland und der weitere Austausch mit der Türkei. Das müssen auch die Türkinnen und Türken wissen; denn sie entscheiden über die Zukunft ihres Landes, nicht wir. Es war allerdings unser Fehler, dass wir mit Ankara nie die Kapitel Justiz und Menschenrechte diskutiert haben, Herr Kauder. Fragen Sie bitte auch einmal bei Herrn Polenz und anderen nach, was die Fehler Ihrer Partei in der Türkei-Politik betrifft.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Da rede ich mit Ihnen!)
Als Letztes – daraus erklärt sich natürlich unsere moralische Verantwortung –: Die deutsche Geschichte verpflichtet uns, hinzuschauen, wenn Demokratie mit Füßen getreten wird, zu klarer Haltung und zu unmissverständlicher Sprache genauso wie zu Diplomatie. Unsere Demokratie haben auch Millionen Türken mitgestaltet. Sie wissen: Deutschland mag nicht perfekt sein, aber Nazis sind wir sicher nicht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir brauchen politisches Fingerspitzengefühl und kühlen Verstand. Wahlkampfauftritte wünsche ich mir nicht. Einreiseverbote würden alleine jetzt den Falschen helfen. Wir brauchen klare Regeln, wie es Sigmar Gabriel zu Recht angemahnt hat. Auch die Opposition in der Türkei muss Rederecht bekommen.
Übrigens, wenn Erdogan hier in Deutschland auftritt, dann bricht er die Verfassung, türkisches Recht; denn er hat mit dem Amtseid seinem Volk geschworen, dass er als Staatspräsident neutral ist. Grundsätzlich sollten wir hier nach dem 16. April im Haus erörtern, ob und wie Vertreter außereuropäischer Länder in Deutschland Wahlkampf machen sollten. Diese schwierige Frage sollten wir nicht auf den Schreibtischen der kommunalen Ordnungsdienste abladen.
Herzlichen Dank und Glück auf!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vielen Dank, Michelle Müntefering. – Der nächste Redner: Thomas Dörflinger für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7082520 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 221 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zum Europäischen Rat |