23.03.2017 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 225 / Zusatzpunkt 3

Michael Roth - Aktuelle Stunde 60 Jahre Römische Verträge

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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie viele von Ihnen besuche auch ich Schulen und suche das Gespräch mit Schülerinnen und Schülern. Kürzlich wurde ich von einer Schülerin gefragt: Michael Roth, was hat Sie eigentlich zu einem Europäer werden lassen? – Ich musste ein bisschen nachdenken. Dann erinnerte ich mich daran, woher ich gekommen bin, wo ich groß geworden bin und wo ich aufwuchs. Ich bin in Heringen geboren, groß geworden, zur Schule gegangen. Heringen an der Werra liegt in Osthessen, ungefähr 1 Kilometer von der ehemaligen Grenze zur DDR entfernt. Wenige Monate vor meinem Abitur – ich weiß das noch wie heute – fiel die Mauer. Ich hatte das große Glück, dass ich im Westen groß geworden bin. Aber für mich galt der Song von Udo Lindenberg: „Hinterm Horizont geht’s weiter“ nicht. – Hinter dem Horizont ging es für mich nämlich nicht weiter, weil in Richtung Osten ein für mich unbekanntes Land lag.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da durfte man hinfahren!)

Daraus habe ich, wie viele Männer und Frauen meiner Generation, eine Lehre gezogen: Europa ist ein Projekt der Freiheit, ein Projekt, das Zäune und Mauern zu überwinden versucht. Deswegen werde ich mich niemals mit einem Europa abfinden, in dem neue Mauern gebaut und neue Zäune errichtet werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ja, Europa heißt für mich: nie wieder Krieg, nie wieder Holocaust, nie wieder Faschismus, aber eben auch nie wieder Mauern und Zäune.

Heute sind wir in Gedanken bei unseren Freunden und Partnern in Großbritannien. Wir sind fassungslos über diesen Terrorangriff. Wir trauern um die Opfer. Unser Mitgefühl gilt den Familien der Opfer. Zusammenhalten, zusammenstehen – das zeichnet uns in Europa aus. Liebe Britinnen und Briten, ihr seid in eurer Trauer nicht allein. Wir stehen an eurer Seite, auch im Kampf gegen den Terrorismus. Solidarität, Miteinander – das ist die einzigartige Stärke der Europäischen Union, und ihr gehört dazu. Wir sind traurig, dass ihr in Zukunft nicht mehr dazugehören wollt.

Das war sicherlich einer der Tiefpunkte, die uns im vergangenen Jahr erschüttert haben: dass die Bürgerinnen und Bürger eines Staates zum allerersten Mal in der Geschichte des vereinten Europas mehrheitlich sagen, sie wollen nicht mehr dazugehören. Aber wir sollten deshalb nicht rückwärtsgewandte Debatten führen, sondern das auch als eine Chance zur europäischen Selbstvergewisserung begreifen.

Wir müssen natürlich auch selbstkritisch über unser Europa, so wie es sich derzeit darstellt, nachdenken. Streit gehört in Europa immer dazu. Es gehört aber auch dazu, dass wir diesen Streit respektvoll und tolerant austragen und dass wir immer wieder versuchen, uns in die Rolle des jeweils anderen Partners hineinzuversetzen, dass wir Europa auch mal mit den Augen des jeweils anderen oder der jeweils anderen sehen. Das hilft.

Miteinander nach Lösungen zu suchen, ist gelegentlich schwierig; denn Europa beruht auf Vielfalt. Auch wir in Deutschland haben Traditionen, wegen derer es schwierig war, im Rahmen des Binnenmarktes zu gemeinsamen Lösungen zu kommen – wenn ich mal an die Schornsteinfeger oder auch an den Meisterbrief denke. Da ist es auch vielen bei uns in Deutschland schwergefallen, auf etwas zu verzichten, was als Stärke unseres Landes angesehen wurde. Jedes Land hat eigene Traditionen, die es vielleicht nur schwerlich aufgeben möchte.

Aber trotz allen Streits gehört es dazu, dass man sich an das Gemeinsame erinnert. Was macht uns in Europa stark, und was macht uns im Kern zu Europäerinnen und Europäern? Wir sind nicht in erster Linie ein Binnenmarkt; wir sind in erster Linie eine Wertegemeinschaft, und dieses Wertefundament verpflichtet uns. In Europa wollen wir ohne Angst verschieden sein, unabhängig davon, wen wir lieben, unabhängig davon, an welchen Gott wir glauben oder ob wir überhaupt an einen Gott glauben. Das ist das, was Europa stark gemacht hat; Europa beruht auf Vielfalt.

Vielleicht haben wir in den vergangenen Jahren zu wenig daran erinnert, dass dieses Europa eben auch von gemeinsamen Werten zusammengehalten wird. Diese Werte verpflichten uns alle; aber Europa, die Europäische Union, ist offen für alle, unabhängig davon, welcher Religion, welcher Ethnie oder auch welcher Kultur sie angehören.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen unsere Stimme erheben, wenn politisch Verantwortliche in der Europäischen Union einen Satz wie diesen sagen: Flüchtlinge gehören nicht zu unserem Land, wir können sie nicht aufnehmen, weil sie Muslime sind. – Dieser Satz ist mit den Werten Europas unvereinbar;

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

er ist mit den Verträgen der Europäischen Union nicht vereinbar. Wir brauchen also auch hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, Klarheit. Bei Werten darf es keine politischen Rabatte geben. Es geht um unsere eigene Glaubwürdigkeit. Wie wollen wir auf der globalen Ebene für Menschenrechte, für Demokratie, für die Unabhängigkeit der Justiz, für die Freiheit der Medien glaubhaft eintreten, wenn wir einen Zweifel daran lassen, dass wir diese Werte uneingeschränkt im Inneren der Europäischen Union achten, respektieren und verteidigen? Wir können nur dann selbstbewusst unsere Werte gegenüber Russland, gegenüber der Türkei, gegenüber China und vielen anderen Staaten dieser Welt vertreten, wenn wir selbst diese Werte uneingeschränkt achten.

Es ist seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika auf der globalen Ebene nicht leichter geworden. Umso wichtiger ist es, dass wir hier zusammenstehen, mit einer Stimme sprechen und deutlich machen: „Europa steht für diese Werte“ – nicht nur in Sonntagsreden, sondern im Alltag, im Kleinen wie im Großen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Warum ist es gelegentlich so schwer, Bürgerinnen und Bürger für Europa zu begeistern? Das mag auch daran liegen, dass wir Politikerinnen und Politiker die Debatte über Europa gelegentlich als eine Verzichtsdebatte geführt haben, auch hier im Bundestag, nach dem Motto: Wir müssen als Nationalstaat auf etwas verzichten, wenn wir Zuständigkeiten auf die Europäische Union verlagern. – Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir können doch nur auf das verzichten, was wir noch haben. Der Nationalstaat alter Prägung ist nicht mehr in der Lage, die Globalisierung angemessen – demokratisch, sozial und nachhaltig – zu gestalten. Das heißt, wir gewinnen über ein handlungsfähigeres, ein demokratischeres, ein stärkeres Europa politische Gestaltungsmacht zurück, die uns auf der nationalen Ebene schon längst nicht mehr zur Verfügung steht. Vielleicht können wir so Bürgerinnen und Bürgern wieder Mut machen und deutlich machen, dass wir nichts verlieren, sondern dass wir mit Europa etwas hinzugewinnen. Genau das hat auch unser Außenminister kürzlich in einem Namensbeitrag deutlich gemacht.

Wie oft muss man hören: Deutschland ist der Zahlmeister Europas. – Kein Land hat vom vereinten Europa so viel profitiert wie die Bundesrepublik Deutschland. Wir sind stark, weil wir in einem starken und solidarischen Europa leben. Wir können uns keine Armutsinseln in der Europäischen Union erlauben. Wir leben vom Wohlstand auch in anderen Regionen der Europäischen Union. Unsere Arbeitsplätze, unser Wirtschaftswachstum beruhen auf offenen Grenzen und darauf, dass sich auch Spanierinnen und Spanier, Griechinnen und Griechen und viele andere unsere qualitativ hochwertigen, aber eben auch teuren Produkte leisten können. Das heißt, wenn es anderen Europäerinnen und Europäern gut geht, geht es uns auch in Deutschland gut. Das muss man wieder offensiv vertreten, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ja, dieses Europa der 28 ist komplizierter geworden; es ist schwieriger geworden, einen Konsens zu finden. Deswegen ist es vielleicht auch an der Zeit, wieder intensiver darüber nachzudenken, wie wir es schaffen, dass wir uns nicht vom Langsamsten und vom Unwilligsten Richtung und Tempo vorgeben lassen müssen. Das hat nichts mit der Debatte über Kerneuropa zu tun. Wir wollen keinen Closed Shop, sondern wir wollen ein Europa der Mutmacher. Wir wollen, dass Staaten in bestimmten Politikbereichen vorangehen und deutlich machen: Europäische Lösungen sind am Ende besser, nachhaltiger, gerechter und funktionsfähiger als rein nationale Lösungen. Diesem Europa der Mutmacher können sich alle anschließen. Vielleicht bringt das Europa wieder in Schwung und zeigt, dass Europa nun wirklich nicht Teil des Problems, sondern vielmehr Teil der Lösung ist.

Herr Staatsminister.

Um die wesentlichen Bewährungsproben, mit denen wir es derzeit zu tun haben, zu bestehen, reichen, wie ich das sehe, keine rein nationalen Lösungen aus. Weder im Kampf gegen den Terrorismus noch in der Bekämpfung von Fluchtursachen noch in der Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion noch im Kampf gegen Steuerdumping noch in der Stärkung der sozialen Dimension sehe ich allein Deutschland in der Pflicht, ich sehe uns alle in Europa in der Pflicht. Wir in Deutschland müssen uns besonders anstrengen, dass diese Europäische Union gelingt, dass sie besser und handlungsfähiger wird; denn Europa war, ist und bleibt unsere Lebensversicherung in Zeiten der Krise. Sie ist eine Chance auf etwas Einzigartiges, vor allen Dingen für die jungen Menschen, die derzeit auf die Straßen gehen. Sie haben meine Sympathie, sie haben meine Solidarität.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Danke schön. – Als Nächste spricht für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Ursula Groden-Kranich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7089350
Wahlperiode 18
Sitzung 225
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde 60 Jahre Römische Verträge
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