24.03.2017 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 226 / Tagesordnungspunkt 29

Corinna RüfferDIE GRÜNEN - Teilhabebericht der Bundesregierung

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen. Das ist so eine Sache. Ich möchte mit einer Mail einsteigen, die meine Kollegin Elisabeth Scharfenberg kürzlich erreichte. Die Mail stammt von einer 52-jährigen Frau mit Behinderung. Diese Frau hat geschrieben:

Ich wurde nach einem Knochenbruch ... gegen meinen Willen in ein Altenheim abgeschoben. ... Jeden Tag werde ich von einer anderen Person gewaschen, oft bei geöffneter Tür. Ich werde komplett fremdbestimmt, das Essen ist ungenießbar ... Ich liege nur im Bett rum und muss schauen, wie der Tag rumgeht. ... Alles wird über meinen Kopf gegen meinen Willen bestimmt ... Immer soll ich alles dankbar akzeptieren. So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt. Das ist menschenunwürdig und inakzeptabel.

Diese Frau hat recht. Das ist menschenunwürdig, und das ist inakzeptabel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wenn ich mir überlege, was wir hier in den letzten Jahren getan haben, um so etwas zu verhindern, dann muss ich zugeben: Ich schäme mich. Wir haben im Dezember ein Teilhabegesetz verabschiedet, mit dem es nach wie vor möglich ist, behinderte Menschen gegen ihren Willen in Heime einzuweisen, in Heime zu zwingen, obwohl wir wissen, dass behinderte Menschen, die in Einrichtungen leben, mehr von Gewalt betroffen sind als die Durchschnittsbevölkerung. Das steht im Teilhabebericht, und so stand es auch im letzten Teilhabebericht. Darüber wird Gott sei Dank, glücklicherweise immer häufiger öffentlich berichtet.

Sicher haben einige von Ihnen vor gut einem Monat den Bericht von Team Wallraff gesehen; Katrin Werner hat es vorhin erwähnt. Ich bin sicher: Wenn Sie ihn gesehen haben, dann waren Sie ebenso schockiert wie ich. Da werden Menschen brutal behandelt. Ihnen wird ein Bein gestellt. Sie werden schikaniert. Es war die Rede von einem Spastiker, den man regelmäßig gedemütigt hat, nur weil er sich so bewegt hat, wie er sich bewegt. Er musste allein im dunklen Zimmer sitzen, bekam keinen Kuchen, und die Liste der Strafen ist lang.

Das sind leider nicht nur Einzelfälle. Die Staatsanwaltschaft ermittelt mittlerweile gegen eine Einrichtung der Lebenshilfe in Speyer. Das ist auch richtig und gut so. Aber es ist schlimm, dass vorher niemand hingeguckt hat.

Wie gesagt, es geht nicht nur um Einzelschicksale. Vor zwei Jahren waren wir mit einer Delegation aus Deutschland bei den UN. Die erste Staatenprüfung hat damals stattgefunden. Wir wurden genau auf diese Punkte hingewiesen. Verändert hat sich aber leider nichts. So kann es echt nicht weitergehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, Sie hatten in den letzten drei Jahren wirklich alle Chancen. Sie haben diese Chancen nicht genutzt. Das Teilhabegesetz wird die Situation von behinderten Menschen in diesem Land vermutlich an kleinen Stellen ein wenig verbessern, aber das ist ein bisschen so, wie wenn man einen großen Kuchen vor sich hat, aber nur Krümel abbekommt. Das ändert nämlich nichts daran, dass es weiterhin Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten gibt. Man stößt auf diese Ungerechtigkeiten, auf diese Grausamkeiten, wenn man Kontakt zu Menschen mit Behinderungen hat oder wenn man selber eine Behinderung hat. Es wäre gut, wenn im nächsten Deutschen Bundestag mehr Menschen mit Behinderungen vertreten wären, um hier in eigener Sache sprechen zu können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte noch einmal konkret werden und auf die Situation behinderter Geflüchteter und Asylsuchender zu sprechen kommen. Der Teilhabebericht – das ist gut – widmet dieser Personengruppe ein ganzes Kapitel. Ein konkretes Beispiel: Ich habe vor ziemlich genau einem Jahr einen gehörlosen Syrer kennengelernt, der hier in Deutschland Asyl beantragt hat. In der letzten Woche sollte die Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stattfinden. Obwohl dem Bundesamt mehrfach mitgeteilt wurde, dass dieser Mensch gehörlos ist, stand kein Gebärdendolmetscher zur Verfügung. Und dann passierte der Skandal. Er kam zum Bundesamt. Die haben ihm dann eine Auflage erteilt: Er müsse einen gesetzlichen Betreuer an die Seite gestellt bekommen, damit das Bundesamt die Anhörung durchführen könne. Es ist unfassbar, dass hier ein Mensch entrechtet werden soll, weil das Bundesamt nicht in der Lage ist, eine barrierefreie Anhörung durchzuführen. Das ist wirklich völlig inakzeptabel!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Dass es auch hier wieder nicht um einen misslichen Einzelfall geht, wissen Sie auch; denn die Monitoringstelle hat vor einiger Zeit einen Bericht dazu vorgelegt. Auch der Teilhabebericht geht auf die Probleme in diesem Bereich deutlich ein. Das Problem ist, dass Sie als Bundesregierung keine passenden – eigentlich keine – Konsequenzen daraus ziehen.

Meine Fraktion hat eine umfangreiche Kleine Anfrage zu dem Themenkomplex gestellt und in dieser Woche auch eine Antwort erhalten. Ich muss Ihnen leider sagen: Diese Antwort ist Beleg für Ihre ignorante Haltung gegenüber der zum Teil verzweifelten Situation von Geflüchteten in diesem Land. Ich kann natürlich leider nicht auf alle Details dieser Kleinen Anfrage eingehen. Deswegen gebe ich nur ein Beispiel. Wir haben zum Beispiel gefragt, ob die Bundesregierung die Ansicht teilt, dass sich eine schlechte Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln nachteilig auf die Gesundheit Geflüchteter auswirkt und auch zu sozialen Problemen führen kann. Und was antworten Sie, meine Damen und Herren? Die Frage setzt gedanklich voraus, dass die Versorgung von Flüchtlingen mit Behinderung mit Heil- und Hilfsmitteln im Bundesgebiet mangelhaft wäre. Dies entspricht jedoch nicht der Auffassung der Bundesregierung.

Ich sage Ihnen aber: Es kommt nicht auf die Auffassung der Bundesregierung an. Ich würde Ihnen aus den Fraktionen von Union und SPD empfehlen: Sprechen Sie doch einmal mit Ihrer Regierung, und sagen Sie ihr, dass Sie ihren eigenen Teilhabebericht bitte auch einmal lesen soll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Insbesondere der Wissenschaftliche Beirat weist im Teilhabebericht darauf hin, dass es eine Unterversorgung gibt und dass sich deswegen natürlich der Gesundheitszustand der entsprechenden Personen – was denn auch sonst? – verschlechtert. Daran wird sich nichts ändern, solange Sie erklären, dass hier alles in Ordnung ist, obwohl das nicht der Fall ist.

Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass in Bezug auf viele Punkte die Länder zuständig sind. Das entlässt uns als Bund aber doch nicht aus der Verantwortung. Wir könnten viel tun. Zum Beispiel könnten wir endlich das unsägliche Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wir könnten uns einen Überblick darüber verschaffen, wie viele behinderte Menschen aus dem Ausland nach Deutschland gekommen sind und was ihre Bedarfe sind. Das tun wir bisher nicht. Die UN haben uns auch darauf eindrücklich hingewiesen und gesagt, dass wir strukturelle Probleme haben, die wir lösen müssen.

Sie behaupten, die gesetzlichen Regelungen – insbesondere im Asylbewerberleistungsgesetz – in Bezug auf asylsuchende und geduldete Menschen mit Behinderung stünden im Einklang mit der UN-BRK. Ich entgegne Ihnen: Das kann ich nur als schlechten Witz auffassen.

Es gäbe noch sehr viel zu sagen. Der Teilhabebericht – Frau Lösekrug-Möller hat ihn hier hochgehalten – umfasst 500 Seiten. Natürlich können wir hier nicht über alle einzelnen Punkte diskutieren. Wir können an dieser Stelle aber feststellen, dass es so nicht weitergehen darf, dass wir endlich handeln müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katrin Werner [DIE LINKE])

Der Teilhabebericht zeigt, dass von gleichberechtigter Teilhabe und gleichwertigen Lebensbedingungen nicht die Rede sein kann. Die Menschenrechte behinderter Menschen werden in unserem Lande eingeschränkt. Sie werden zum Teil missachtet. Das ist inakzeptabel. Dies ist und bleibt ein Skandal. Ich rufe Sie auf, dass wir endlich gemeinsam, und zwar konsequent, dagegen vorgehen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Rüffer. – Als Nächste hat Dr. Astrid Freudenstein von der CDU/CSU das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7090275
Wahlperiode 18
Sitzung 226
Tagesordnungspunkt Teilhabebericht der Bundesregierung
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