Verena Bentele - Teilhabebericht der Bundesregierung
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Wort „Teilhabe“ ist für mich als die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen ein wesentlicher Pfeiler meiner Arbeit.
„Teilhabe“ heißt in meinen Augen aber noch viel mehr. Es heißt nämlich: die aktive Gestaltung der Gesellschaft, in der wir leben wollen. Und zwar durch und von Menschen mit Behinderungen. Um aktiv gestalten zu können, benötigen Menschen mit Behinderungen jedoch Rahmenbedingungen wie beispielsweise leichte Sprache, Gebärdensprachdolmetscher und Assistenz für gesellschaftliches oder politisches Engagement, und, meine sehr geehrten Damen und Herren, sie brauchen das Recht und die Möglichkeit, sich zu entscheiden, vor allem zu wählen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an die CDU/CSU und die SPD gewandt: Ja, dann machen wir das doch zusammen, dass sie wählen dürfen! Jederzeit machen wir das!)
Haben alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland das Recht, zu wählen? Nein, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete, wir haben in Deutschland über 81 000 Menschen, die unter rechtlicher Betreuung in allen Angelegenheiten stehen, die weder ein aktives noch ein passives Wahlrecht haben. Das darf definitiv nicht sein.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Karl Schiewerling [CDU/CSU] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da könnte auch einmal die ganze Union klatschen!)
Menschen mit Behinderungen sollen entscheiden dürfen, wer ihre Interessen vertritt. Wenn Sie, meine Damen und Herren Abgeordnete, wollen, dass sich Menschen unter rechtlicher Betreuung in allen Angelegenheiten für Sie als ihre Abgeordneten entscheiden können, dann reformieren Sie bitte unser Bundes- und Europawahlgesetz.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben hier eine Mehrheit!)
Wofür benötigen wir einen Bericht über die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen? Teilhabe macht deutlich, wo dringender politischer Handlungsbedarf besteht. Die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen hat in dieser Legislatur Fortschritte gemacht. Dafür danke ich den Koalitionsfraktionen, insbesondere Andrea Nahles, die Gesetze für Menschen mit Behinderungen auf den Weg gebracht und abgeschlossen hat.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Teilhabe zu verbessern, ist und war das Ziel des Behindertengleichstellungsgesetzes. Wesentliche und wichtige Ergebnisse sind beispielsweise die Bundesfachstelle Barrierefreiheit oder auch die Einführung einer unabhängigen Schlichtungsstelle.
Im Teilhabebericht 2016 ist zu lesen, dass der Anteil der Menschen mit Beeinträchtigungen an der aktiven politischen Teilhabe und Gestaltung der Gesellschaft von 8 Prozent im Jahr 2009 auf 12 Prozent im Jahr 2013 gestiegen ist. Und auch ich bin mir sicher, dass die Zahl heute insbesondere nach dem Gesetzgebungsverfahren zum Bundesteilhabegesetz deutlich höher ist.
Der aktuelle Teilhabebericht liefert uns wesentliche und wichtige Erkenntnisse und sei allen, vor allem jetzt in einem Wahljahr, zur Lektüre sehr ans Herz gelegt. Ich habe mir zwei Themenfelder noch einmal besonders herausgegriffen.
Eine Zahl: Nur 40 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigungen in Deutschland können hauptsächlich von ihrem Erwerbseinkommen leben – nur 40 Prozent! Bei den Menschen ohne Beeinträchtigungen sind das fast doppelt so viele, nämlich 74 Prozent. Menschen mit Beeinträchtigungen sind – auch aufgrund dieser Tatsache – deutlich stärker von dem Risiko, arm zu sein, betroffen. Deswegen ist es für mich jede Anstrengung wert – von Ihnen als Parlament, von der Bundesregierung, aber auch von der Gesellschaft, von den Arbeitgebern –, an dieser Situation für Menschen mit Behinderungen schnellstmöglich einiges zu ändern.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU])
Menschen mit Beeinträchtigungen haben durch Arbeit nicht nur die Möglichkeit, ihr Erwerbseinkommen zu erwirtschaften, sondern auch deutlich bessere Möglichkeiten, soziale Kontakte aufzubauen und an der Gesellschaft teilzuhaben.
An einer Stellschraube wurde gedreht: Durch die Verbesserungen bei der Anrechnung des Einkommens und Vermögens der Bezieher von Eingliederungshilfe wurde mehr Menschen mit Beeinträchtigungen die Möglichkeit zum Ersparen eines Vermögens gegeben. Wir haben hier einen wichtigen Schritt gemacht, sind aber – das sage ich als Behindertenbeauftragte – noch längst nicht am Ende der Fahnenstange.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)
Auch das bleibt ein Projekt für die Zukunft.
Viele Menschen mit Beeinträchtigungen brauchen aber deutlich bessere Chancen für einen Neueinstieg ins Berufsleben oder für eine Weiterbeschäftigung; denn hier liegt in meinen Augen der Schlüssel. Wenn Menschen durch einen Unfall, eine Erkrankung oder durch altersbedingte Einschränkungen eine Veränderung in ihrem Leben erfahren, brauchen sie die Möglichkeit, am inklusiven Arbeitsmarkt mit ihren Ressourcen und Fähigkeiten wertgeschätzt zu werden.
Zur Herstellung von Barrierefreiheit leisten die Schwerbehindertenvertretungen, deren Rechte durch das Bundesteilhabegesetz gestärkt wurden, tagtäglich einen wesentlichen und großartigen Beitrag. Ich möchte ihnen allen auch an dieser Stelle für die hervorragende Arbeit danken, die sie tagtäglich leisten.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Meine Damen und Herren, die Weichen für den Einstieg ins Berufsleben und für Teilhabe werden aber zu einem anderen Zeitpunkt gestellt, nämlich am Anfang des Lebens. Davon kann ich ein Lied singen. Die Teilhabe fängt in der Kita und in der Schule an. Lernorte für alle Kinder sind die Grundlage für eine Gesellschaft, in der das Anderssein ganz normal ist und in der das Besondere jedes Menschen geschätzt und gewürdigt wird.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deswegen halte ich die Debatten – auch jetzt in den Landtagswahlkämpfen –, ob wir überhaupt inklusive Bildung wollen, für völlig überflüssig.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)
Das Thema der Debatte kann doch heute nur noch lauten: Wie wollen wir die inklusive Bildungslandschaft umsetzen, und welche Ressourcen haben wir zur Verfügung, um endlich für alle Kinder und Jugendlichen inklusive Lernorte zu generieren?
Auch hierzu möchte ich eine Zahl nennen: Was passiert eigentlich bei den Berufsabschlüssen? Zunächst einmal zurück zu den Schulen: Wir haben laut Teilhabebericht – das kam auch vorhin schon – eine steigende Anzahl von Kindern und Jugendlichen an inklusiven Schulen, aber dies geht nicht mit einer sinkenden Anzahl von Schülerinnen und Schülern an Förderschulen einher. Das ist, wie ich finde, definitiv nicht haltbar.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Frau Bentele, achten Sie bitte ein bisschen auf die Zeit?
Okay. Ich bin gleich fertig. Es tut mir leid, aber Teilhabe ist einfach so ein umfassendes Thema
(Heiterkeit bei der SPD)
Ganz kurz noch eine Zahl zu den beruflichen Abschlüssen. 21 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigungen, fast doppelt so viele wie bei den Menschen ohne Behinderungen – bei ihnen sind es nur 12 Prozent –, haben keinen Berufsabschluss, und das sind deutlich zu viele.
Lassen Sie mich noch eine ganz wesentliche Sache sagen. Wir müssen dringend mehr über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen wissen. Deswegen ist es gut, dass es eine neue Repräsentativumfrage gibt, die Andrea Nahles im letzten Jahr in Auftrag gegeben hat. Diese wird über fünf Jahre hinweg laufen und uns wirklich wesentliche Erkenntnisse über die Teilhabemöglichkeiten und die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen bringen, und das ist wesentlich für politisches Handeln.
Eine Erkenntnis haben wir jedoch schon: Für mich ist in der nächsten Legislatur einer der entscheidenden und wichtigen Punkte, dass wir endlich auch im zivilrechtlichen Bereich bei der Herstellung von Barrierefreiheit weiterkommen müssen, nämlich durch die Verpflichtung der Anbieter von Dienstleistungen und Produkten zur Herstellung von Barrierefreiheit im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz – damit wir im nächsten Teilhabebericht lesen: Menschen mit Beeinträchtigungen können in allen Lebenssituationen gleichberechtigt teilhaben.
Danke schön.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Vielen Dank, Frau Bentele. Wir hier oben waren, glaube ich, sehr großzügig. Es ist ein wichtiges Thema, und ich habe an der Resonanz aller Kollegen gesehen, dass man da nicht gleich unterbrechen sollte. – Nächste Rednerin ist jetzt Frau Jutta Eckenbach von der CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7090278 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 226 |
Tagesordnungspunkt | Teilhabebericht der Bundesregierung |