24.03.2017 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 226 / Tagesordnungspunkt 29

Jutta EckenbachCDU/CSU - Teilhabebericht der Bundesregierung

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es heute schon mehrmals gehört: Der Teilhabebericht umfasst rund 500 Seiten. Ich habe mir die Frage gestellt: Ist es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, dass der Bericht so umfangreich ist? Geht es um gelungene und gute Teilhabe und Inklusion, oder ist der Handlungsbedarf noch so groß? Der Bericht spiegelt sicherlich beide Seiten wider.

Wir haben in den letzten Jahrzehnten viel dazugelernt, und wir haben viel erreicht. Wir haben Menschen mit Behinderungen durch das Behindertengleichstellungsgesetz und durch das neue Bundesteilhabegesetz eine verbesserte gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Das waren zwei wichtige Maßnahmen, die wir auf den Weg gebracht haben, aber der Nationale Aktionsplan 2.0 gibt uns auch zukünftig noch einiges zu tun.

Das Bundesteilhabegesetz ist entstanden unter der Mitwirkung vieler Betroffener, Organisationen, Vereine und Verbände. Es wurden wirklich gute Gespräche geführt. Ich glaube, dass es besser ist, miteinander zu sprechen als übereinander. Das ist der richtige Weg.

Gestatten Sie mir, an dieser Stelle auf eine Einschränkung hinzuweisen, auf die wir achten müssen. Kürzlich war der LVR, der Landschaftsverband Rheinland, zu Gast hier in Berlin; Frau Rüffer, Uwe Schummer und Hubert Hüppe waren auch dort. Dieses Treffen bot uns die Gelegenheit, mit Menschen mit Behinderungen zu sprechen. Irgendwann stand eine Frau mit Behinderungen auf und sagte: Dieses Gesetz macht mir Angst. – Angesichts der vielen Gespräche, die ich mitbekommen habe, sagen ich Ihnen: Wir müssen aufpassen, wie wir mit den Menschen reden, wenn wir mit ihnen über ein Gesetzesvorhaben reden. Bei manchen ist die Reaktion: „Boah, jetzt ändert sich was“, bei anderen ist die Reaktion: Jetzt bekomme ich Angst. – Das ist eine schwierige Situation. Deswegen ist es wichtig, zu überlegen, wie wir die Prozesse angehen und wie wir auch zukünftig mit Menschen mit Behinderungen darüber reden, was wir mit ihnen per Gesetz vorhaben. Ich finde, das ist ein ganz wichtiger Hinweis.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Kerstin Tack [SPD] – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das würde mir auch Angst machen, wenn man mir sagen würde, was Sie mit einem Gesetz mit mir machen!)

– War das eine Zwischenfrage? Darüber können wir gleich noch einmal sprechen, Frau Rüffer.

Alle Kolleginnen und Kollegen hier haben viele Gespräche geführt. Wir waren auch vor Ort in den Einrichtungen und haben dort mit vielen Menschen gesprochen. Da ich seit vielen Jahren für den LVR tätig bin, habe ich auch mit Menschen mit Behinderungen gesprochen.

Ich finde es wichtig, dass wir nicht nur über die großen Einrichtungen sprechen, sondern wir müssen auch über die kleinen Einrichtungen sprechen. Ich habe vor einiger Zeit eine der Arche-Wohngemeinschaften in Essen besucht. Das ist so eine kleine Einrichtung. Dort habe ich einen jungen Mann kennengelernt, der gerade neu eingezogen war. Zuvor hatte er bei seiner Familie gelebt, seine Mutter hatte ihn bisher versorgt. Bei meinem Besuch saß er ganz verschüchtert und traumatisiert in der Ecke. Ich habe versucht, ihn anzusprechen, aber da er nicht antwortete, habe ich es sehr schnell sein gelassen. Als die Arche-Wohngemeinschaft ihr 16-jähriges Bestehen gefeiert hat, war ich wieder vor Ort. Die Feier fand an einem Sonntagnachmittag statt, es wurde ein ökumenischer Gottesdienst abgehalten. Als ich einen großen Saal betrat, kam mir dieser junge Mann entgegen. Er lief fröhlich herum und hatte einen Hut auf. Ich habe mich sehr gefreut, ihn so fröhlich zu sehen und habe ihm das auch gesagt, woraufhin er mich umarmte. Er war vollkommen in der Gemeinschaft angekommen.

Gerade wenn wir über die Teilhabeberichte diskutieren, ist es wichtig, dass wir nicht nur über die schlechten Dinge reden, sondern dass wir auch über das Gute reden, das wir erreichen, über die vielen Möglichkeiten, über die ganz unterschiedlichen Ansätze, die wir in der Behindertenpolitik verfolgen. Wir brauchen Vielfalt; denn jeder Mensch mit Beeinträchtigungen ist anders. Auch diese Menschen sind nicht alle gleich. Jeder Mensch ist ein Individuum. So wie wir alle unterschiedlich sind, so sind es eben auch die Menschen mit Behinderungen.

Lassen Sie mich auf einen weiteren wichtigen Punkt eingehen: Ich rede von Bildung. Ich komme aus dem wunderschönen Land Nordrhein-Westfalen, aus der wunderschönen Kulturhauptstadt Essen. Wie ist die Situation in den Regelschulen in Nordrhein-Westfalen? Die Grundschulen in Nordrhein-Westfalen haben im Schnitt 28 Schüler pro Klasse, in inklusiven Klassen sind es 25 Schüler. Die Raumkonzeption der Schulen ist nicht darauf ausgerichtet, Schüler und Schülerinnen inklusiv zu unterrichten. Die Schulen haben auch nicht die notwendigen Förderlehrer, um die Kinder inklusiv zu unterrichten. – Wir schränken die Förderschulen ein, um Kinder in nicht gut ausgestattete Regelschulen zu schicken. Wir überfrachten damit die Lehrer und nehmen auch die Eltern zum Teil nicht mit. Das ist für mich keine Bildungspolitik, die Inklusion wirklich beinhaltet.

(Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Werner [DIE LINKE]: Das fordert doch keiner so! Sie machen doch Angst!)

Das sollten wir, verdammt noch mal, wirklich ändern. Das regt mich auf! Wir tun so, als hätten wir an dieser Stelle schon unser Bestes erreicht.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt doch auch keiner! Aber wir haben zumindest angefangen!)

Nein, das haben wir nicht! Wir schaden den Kindern, und wir schaden dem gesellschaftlichen Anspruch auf Inklusion.

(Katrin Werner [DIE LINKE]: Ja! Weil Sie das Bildungssystem nicht ausbauen!)

Ich will einen weiteren Punkt nennen: die Werkstätten. Damit bin ich wieder bei dem einzelnen Menschen mit Behinderung. Wir tun ja immer so, als könnten wir für alle Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt schaffen. Ich glaube das nicht. Die meisten Werkstätten für Behinderte sind nicht außerhalb, sondern in den Städten. Sie sind nicht weit draußen, sondern da, wo auch andere Menschen sind. Wer eine solche Werkstatt besucht, sieht, wie die Menschen dort zum Teil sehr einfache Arbeiten erledigen – ja, aber sie tun das mit Freude. Sie gehen gerne in die Werkstatt. Sie gehen sogar dann noch dorthin, wenn sie dem Arbeitsmarkt eigentlich nicht mehr zur Verfügung stehen würden, wenn sie im Rentenalter sind. Sie werden morgens zu Hause abgeholt, sie können teilhaben und mitwirken – im Rahmen ihrer Möglichkeiten.

(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt! Ich gebe Ihnen mal ein paar Briefe!)

Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, den wir wirklich überdenken sollten. Wir reden immer ganz viel über Assistenzleistungen, wir sagen, dass wir den Menschen im gesundheitlichen Bereich helfen müssen, wir sagen, dass wir für die Menschen sorgen müssen, und wir reden darüber, dass bei der Pflege in den Krankenhäusern zusätzliche individuelle Leistungen notwendig sind. Mir wäre es lieb, wenn wir sehr viel stringenter darüber nachdenken würden, wie wir den inklusiven Gedanken in den Ausbildungen der Kindererzieherinnen und der Pflegerinnen und Pfleger verankern können.

(Katrin Werner [DIE LINKE]: In jeder Ausbildung! Lehrer! Handwerker! Das ist doch Inklusion! Sie haben es nicht verstanden!)

Das ist noch nicht der Fall. Dieses Thema gehört aber in die Ausbildung hinein. Genauso gehört es in das Studium der Ärzteschaft, damit ich nicht nach einem Arzt suchen muss, der sich mit Menschen mit Behinderungen auskennt. Wir brauchen in der Breite des gesundheitlichen Bereichs Ärzte, die wissen, wie sie mit Menschen mit Behinderungen umgehen sollen. Ich glaube, das ist dringend nötig. Es muss allgemein bekannt werden, wie man mit Menschen mit Behinderungen umgeht. Das ist auch wichtig, damit Behinderungen frühzeitig erkannt werden.

Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind. Wir alle haben erkannt, dass wir in den vergangenen vier Jahren einen kleinen Schritt oder einen größeren Schritt gemacht haben.

(Katrin Werner [DIE LINKE]: Klein!)

Ich weiß, dass wir seitens der CDU/CSU-Fraktion uns diesem Thema weiterhin sehr stringent nähern werden. Wir werden nicht nur sehr darauf achten, dass es jedem Menschen mit Behinderung in Deutschland gut geht, sondern auch darauf, dass er teilhaben kann.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Eckenbach. – Jetzt hat als letzte Rednerin in dieser Aussprache das Wort Frau Kerstin Tack von der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7090286
Wahlperiode 18
Sitzung 226
Tagesordnungspunkt Teilhabebericht der Bundesregierung
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