24.03.2017 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 226 / Tagesordnungspunkt 31

Kai GehringDIE GRÜNEN - Internationalisierung von Bildung und Wissenschaft

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Welt ist aus den Fugen geraten: Akute Hungerkatastrophen, schleichende Klimakrise, Kriege und Konflikte bringen Elend. Terror destabilisiert Länder, Staaten zerfallen. 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Papst Franziskus spricht von der größten Tragödie seit dem Zweiten Weltkrieg.

Weltweit versuchen autoritäre nationalistische und fremdenfeindliche Kräfte, aus Krisen und Orientierungslosigkeit Kapital zu schlagen. Ihr giftiges Rezept: Ausgrenzung, Abschottung und Renationalisierung. Das ist unvereinbar mit unserer global vernetzten Welt, in der wir leben und die wir weiter wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Anstatt den Kopf in den Sand zu stecken, wollen wir die Globalisierung aktiv und fair gestalten:

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr gut!)

in Verantwortung für alle Menschen in Deutschland und nicht auf Kosten von Menschen anderer Länder und Regionen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])

Bildung und Wissenschaft öffnen Kooperationen auch mit Ländern, deren Türen vernagelt sind. Denn transnationale Bildung richtet sich nicht an die Regime, sondern stellt den einzelnen Menschen – den Forscher, die Lehrkraft, den Schüler, die Studentin – in den Mittelpunkt.

Die UNESCO-Verfassung von 1945 zeigt unseren Auftrag. Zitat:

Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist unser Wertefundament, wenn wir über Internationalisierung von Bildung, Wissenschaft und Forschung sprechen.

Mobilität und Austausch sind Grundlage für einen konstruktiven Dialog und wesentlich für Völkerverständigung und Vielfalt. Es geht nicht darum, den Großteil der Wissenschaftler und Fachkräfte auf Dauer ins Land zu holen, sondern es geht um zirkuläre Migration, um Brain Circulation. Denn Abwerbung oder Headhunting würden die Entwicklungschancen ärmerer Länder schmälern. Es wäre falsch, Internationalisierung nur zu betreiben, um Deutschland Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Nein, es geht um so viel mehr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])

Nachhaltig ist Austausch, von dem alle Partner profitieren, vor allem auch in der arabischen Welt und auf dem afrikanischen Kontinent. Genau das ist Grundlage für unseren deutschen Ansatz einer transnationalen Bildung. Wir wollen Kooperation auf Augenhöhe und, ja, auch auf Herzenshöhe.

Deutschland ist unter den Top Five der Zielländer internationaler Studierender, und das ist super. Die Zahl der ausländischen Wissenschaftler in Deutschland wächst. Auch das ist super.

Umgekehrt haben wir aber noch Luft nach oben. Daher wollen wir die Zahl der Auslandsaufenthalte von Studierenden und Azubis aus Deutschland in der Welt noch deutlich steigern.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Gerade Finanzierungssorgen halten junge Leute allzu oft von Auslandsaufenthalten ab. Daher wollen wir ein besseres Auslands-BAföG und mehr Stipendien, damit mehr Menschen aus einkommensarmen Familien den Schritt ins Ausland wagen. Wir wollen Weltoffenheit für alle.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Eine international anerkannte Stärke Deutschlands ist unser traditionsreiches System der Berufsausbildung. Es ist bei weitem nicht makellos, aber relativ krisenfest und verschafft uns eine vergleichsweise niedrige Jugendarbeitslosigkeit. Dennoch lässt es sich nicht leicht kopieren und exportieren.

Nach drei Jahren Europäischer Ausbildungsallianz sind zum Beispiel in Italien gerade einmal 40 Ausbildungsplätze entstanden. So gut unser Modell auch sein mag, sollten wir uns doch ehrlich machen: Es ist kein Exportschlager,

(Dr. Karamba Diaby [SPD]: Doch!)

sondern eher eine Blaupause. Es braucht echte Initiativen gegen Jugendarbeitslosigkeit, die besser zu den jeweiligen Traditionen der Länder passen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Aber genau das machen wir ja!)

In vielen Ländern sind die Hochschulen Ausbildungsstätten. Allerdings hapert es vielerorts an der Verbindung von Theorie und Praxis. Warum also nicht stärker unser Modell der Fachhochschulen bewerben, deren Stärke genau diese Verbindung ist? Das brächte den Fachhochschulen genau den Internationalisierungsschub, den sie leisten können und wollen. Wegweisend ist die Absicht, eine deutsch-ostafrikanische Fachhochschule zu gründen: ein vielversprechender Vorstoß des DAAD, den wir unterstützen und der hoffentlich Schule macht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Internationalisierung schreitet voran: Wir haben unglaublich engagierte Mittlerorganisationen und Stiftungen, die weltweit Türen öffnen. Wir haben Studierende und Wissenschaftler, die in die Welt hinausziehen, um zusammen mit anderen neue Erkenntnisse zu gewinnen. Ihnen allen gebührt unser Respekt und Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Uns allen muss zugleich bewusst sein, dass die Arbeit dieser Akteure schwerer geworden ist. Immer länger wird die Liste der Länder, in denen Journalisten, Andersgläubige, Andersdenkende und Wissenschaftler entlassen, verfolgt, drangsaliert und eingekerkert werden. Die Forderung „Free Deniz!“ ist eindringliche Chiffre für den Kampf für Pressefreiheit und die Freilassung aller inhaftierten Journalisten in der Türkei und weltweit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Genauso braucht es Freiheit und Schutz für türkische Wissenschaftler, die den Appell für den Frieden unterzeichnet haben. Vor massiven staatlichen wie nichtstaatlichen Repressionen, Angriffen und Übergriffen ist keine Profession mehr sicher. Besonders bedroht sind Geistes- und Sozialwissenschaftler, weil sie als Antreiber gesellschaftlichen Wandels gelten. Umso wichtiger sind Programme für gefährdete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie die Philipp-Schwartz-Initiative der AvH-Stiftung. Wir sollten dieses Engagement verstetigen und deutlich ausbauen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Claudia Lücking-Michel [CDU/CSU])

Neben dem akuten Schutz für Gefährdete kommt es darauf an, die weltweite Stärkung der Wissenschaftsfreiheit zum zentralen Ziel der Internationalisierungsstrategie zu machen. Das fehlt uns. Es fehlt an systematischem Wissen, wie es in unterschiedlichen Ländern um Wissenschaftsfreiheit und Gefährdungen von Studierenden und Forschern bestellt ist. Diesen blinden Fleck muss die Bundesregierung beseitigen. Ob in der Türkei, in China, Russland, im Iran, im Irak oder in Ägypten, dort und anderswo fürchten kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um ihre Freiheit, ihren Beruf, ihr Wohlergehen, manchmal sogar um ihr Leben. Es reicht nicht aus, diese Lage „mit Sorge“ zu beobachten. Es braucht hier deutlichen diplomatischen wie politischen Druck.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Niemand will Austausch und Kooperation direkt abbrechen, wenn sich die Lage in einem Land immer weiter verschlechtert. Für Ernstfälle bedarf es aber klarer Leitlinien für die Zusammenarbeit, vor allem um denen den Rücken zu stärken, die die internationalen Kooperationen gestalten.

Weltweit schrumpfen Budgets für die Wissenschaft.

(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: In Deutschland nicht! Da steigen sie!)

Der gefährliche Trend der Wissenschaftsdiffamierung nimmt zu. Auch hierzulande werden wissenschaftliche Fakten wie der Klimawandel oder Genderforschungsergebnisse diskreditiert, lächerlich gemacht oder geleugnet. Eine Fake- und Abschottungspolitik à la Trump und der antieuropäische Brexit stellen Freizügigkeit und Kooperation von Wissenschaft auf eine mehr als harte Probe. Das sind Herausforderungen, denen wir uns gemeinsam aktiv stellen müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bildung und Wissenschaft spielen die Schlüsselrolle, um die Globalisierung zu gestalten. Bildung kommt soft daher. Aber sie hat eine ungemeine Kraft. „ Eine Schule, ein Buch, ein Kind können die Welt verändern“ – so hat es die Kinderrechtsaktivistin Malala auf den Punkt gebracht. Bildung und Wissenschaft lehren Angstmacher das Fürchten; denn es durchkreuzt ihre Pläne, die eigene Verbohrtheit zu Intelligenz zu erklären. Bildung ist ein Menschenrecht, ein Grundnahrungsmittel für eine starke Zivilgesellschaft – in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt. Es lohnt sich, dafür gemeinsam zu streiten und zu werben.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Gehring. – Jetzt hat als Nächste das Wort die Bundesministerin Dr. Johanna Wanka.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7090457
Wahlperiode 18
Sitzung 226
Tagesordnungspunkt Internationalisierung von Bildung und Wissenschaft
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