Andrea LindholzCDU/CSU - Vereinbarte Debatte zum EU-Austritt Großbritanniens
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das vereinte Europa begann als Traum von wenigen, es wurde zur Hoffnung für viele, und es schafft heute Wohlstand und Frieden für Millionen von Menschen.
Trotzdem hat die britische Regierung gestern offiziell den Austrittswillen für 60 Millionen Briten bekundet. Das ist ein donnernder Weckruf für Europa. Es war kein Tag der Freude. Ich bedaure diese Entscheidung sehr; denn uns verbindet mit Großbritannien viel.
Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist ein Privileg und kein Zwang. Wenn sich ein Land allerdings entscheidet, auszutreten, ist das legitim. Die Entscheidung des britischen Volkes ist natürlich zu respektieren. Die Folgen sollten allerdings allen Europäern klar sein.
Aus jedem Trennungsprozess ergeben sich auch Chancen. Diese Chancen sollten wir für die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten nutzen und dringend notwendige Reformen vollziehen. Europa hat in den letzten Monaten zum Beispiel mit Blick auf die Flüchtlingskrise nicht immer ein gutes und nicht immer ein einheitliches Bild abgegeben.
Die Zukunft des Vereinigten Königreiches steht vor einigen Herausforderungen. Schottlands Regierung und das schottische Parlament fordern ein neues Unabhängigkeitsreferendum. Die britische Wirtschaft braucht unbedingt den Zugang zum EU-Binnenmarkt. Das Aufenthaltsrecht Tausender EU-Bürger ist plötzlich unklar. Die Menschen erwarten zu Recht zügig Antworten. Dafür tragen die Kommission, der Rat und die britische Regierung jetzt die Verantwortung. Denn echte Verantwortung gibt es nur, wo es wirkliche Antworten gibt – das schrieb bereits der jüdische Philosoph Dr. Martin Buber.
Wir erinnern uns aber auch an die Brexit-Befürworter. Sie haben zentrale Wahlversprechen nur wenige Stunden nach der Abstimmung öffentlich als Fehler bezeichnet und die Verantwortung verweigert. Die Folgen des Brexit müssen jetzt andere bewältigen.
Die Antworten, die wir geben müssen, werden nicht einfach sein. Es geht zum einen darum, die Vereinbarungen für den Austritt Großbritanniens selbst, aber auch für die künftigen Beziehungen zu regeln. Zum anderen – das ist viel wichtiger – geht es darum, dass wir die Einheit und Stärke der verbleibenden Mitgliedstaaten erhalten und gemeinsam unsere Interessen vertreten und unsere Werte schützen.
Das Ausmaß der Verhandlungen – wir haben das in den letzten Monaten hier erlebt und durch unsere Ausschüsse erfahren – ist gewaltig. Da ist natürlich auch potenzielles Streitpotenzial in erheblichem Umfang vorhanden. Das Vereinigte Königreich ist mit der Europäischen Union auf vielen Ebenen eng verwachsen. Nicht nur die Beziehungen innerhalb Europas sind zu regeln, sondern auch das Verhältnis zu Drittstaaten muss neu geregelt werden.
Mit dem jetzt zunächst einmal anstehenden Austrittsabkommen ist die Möglichkeit da, einvernehmlich eine Trennung zu schaffen. Das Verhandlungsmandat wird in den nächsten Wochen erteilt. Es geht hier erst einmal um einige technische Angelegenheiten. Es geht vor allen Dingen auch um die Rechte der Bürger, zum Beispiel um den Bestandsschutz für erworbene Rechte im Bereich der Pensionsansprüche. Es geht aber auch um den finanziellen Ausgleich zwischen Europa und Großbritannien. Gerade dieser Punkt wird mit Sicherheit nicht einfach sein.
Parallel dazu müssen noch ein oder mehrere Handelsabkommen hinzutreten, wie man in Zukunft gemeinsam weiterarbeitet. Es gibt dabei wichtige Themen – sie sind angesprochen worden – wie den Bereich Sicherheit und Wirtschaft. Aber – ich bin Herrn Bundesminister Gabriel sehr dankbar, dass er das heute noch einmal klar formuliert hat – erst einmal müssen die Eckpunkte für den Austritt stehen. Ich halte das für die richtige Vorgehensweise.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Insgesamt müssen über 200 000 Rechtsakte geändert werden. Dafür braucht es konstruktive, faire und geordnete Verhandlungen und vor allen Dingen Grundregeln, auf die wir uns verständigen. Für mich sind es drei – ich habe sie formuliert –:
Erstens. Die Europäische Union muss hart und geschlossen handeln, ohne unnötig Porzellan zu zerschlagen. Die Werte und Interessen der 27 Mitgliedstaaten müssen zuerst kommen. Trotzdem wollen und müssen wir die freundschaftlichen Beziehungen zum Vereinigten Königreich natürlich wahren.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zweitens. Wer die Privilegien der EU beansprucht, der muss auch ihre Pflichten akzeptieren. Freien Zugang zum Binnenmarkt darf es nur geben, wenn alle vier Grundfreiheiten – die Freizügigkeit für Waren, Kapital, Dienstleistungen und Menschen – untrennbar miteinander verbunden sind. Eine Rosinenpickerei darf es an dieser Stelle nicht geben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Drittens. Theresa May hat es in ihrem Austrittsschreiben selbst betont: Ein harter Brexit wäre die schlechteste Lösung. Er würde bedeuten, dass es nach den zweijährigen Austrittsverhandlungen keine Übergangsregelungen gibt. Das wäre für die nachfolgenden Verhandlungen denkbar schlecht, vor allen Dingen für das Vereinigte Königsreich. Denn wenn man Großbritannien wie einen beliebigen Drittstaat behandeln würde, dann wären die Folgen allein für den britischen Finanzsektor desaströs. Deswegen liegt es an der Europäischen Union und an Großbritannien, die Verhandlungen mit dem Ziel zu führen, einen harten Brexit zu vermeiden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Verhandlungen sind das eine, die technische Abwicklung ist das andere. Viel wichtiger ist aber: Es muss uns in den Verhandlungen darum gehen, unserer Jugend ein stabiles und starkes Europa zu überlassen. Der Brexit selbst ist kein existenzielles Risiko für die Europäische Union – auch Putin, Erdogan, Trump, die Migrationskrise, die Populisten und die Terroristen nicht. Das größte Risiko für die Zukunft Europas sind der wachsende Nationalismus und Egoismus. Ohne Kompromissbereitschaft und ohne aufeinander zuzugehen gibt es keine gute Zusammenarbeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es war der starke politische Wille der Europäer, einen Beitrag zu Versöhnung, Kooperation und Freundschaft zu leisten, der Europa nach den Kriegen stark gemacht hat. Diesen Willen müssen wir auch in diesen Verhandlungen bekräftigen. In diesen Tagen gehen viele junge Leute auf die Straße: in Paris, in Warschau, in London, in Berlin, in Madrid, in Frankfurt und auch in meinem Wahlkreis. Sie demonstrieren für Europa – das ist ein gutes Zeichen –, und sie wissen: Die beste Antwort im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung in Europa ist ein gutes, gemeinsames und geschlossenes Europa. Darauf sollten wir hinarbeiten.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vielen Dank, Frau Kollegin Lindholz. – Als Nächster spricht Dr. Jens Zimmermann von der SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7092935 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 228 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte zum EU-Austritt Großbritanniens |