Rudolf HenkeCDU/CSU - Finanzierung von Gesundheitsversorgung und Pflege
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es eine ausgezeichnete Idee, sich um die wirklich zentralen Fragen der Zukunft der gesundheitlichen Versorgung und der Pflegeversorgung zu kümmern. In der Tat ist dies das, woran die Menschen prüfen können, ob es gut wird, ob es besser wird, ob es solidarischer wird, ob es gerechter wird. Ich glaube, diese permanent wiederholte Finanzdebatte hilft Ihnen, die Sie diese führen, mit der jeweils unterschiedlich artistisch präsentierten Akrobatik am Hochreck unterschiedlicher Konzepte von Bürgerversicherung selbst nicht wirklich.
(Thomas Stritzl [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)
Denn das ist gar nicht die zentrale Frage der zukünftigen Pflegeversorgung. Edgar Franke hat mit Recht von Zukunftsentwürfen gesprochen. Welche Zukunftsentwürfe brauchen wir denn? Ich glaube, Zukunftsentwürfe brauchen wir im Bereich von Vernetzung über die Grenzen der verschiedenen Professionen in der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung hinweg. Zukunftsentwürfe, das bedeutet, dass wir die neuen elektronischen Instrumente, um diese Vernetzung zu befördern, einsetzen und nutzen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deswegen ist beispielsweise das E-Health-Gesetz, das wir gemeinsam verabschiedet haben, ein Stück dieser Zukunftssicherung und dieses Zukunftsentwurfs.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ich glaube, Zukunftsentwurf heißt, dass wir in der Frage der Prävention mehr tun. Ich will das an einem Beispiel zeigen. Die wirtschaftlichen Schäden – ich rede jetzt nicht von potenziellem Schadensersatz, ich rede nur von wirtschaftlichen Schäden – durch den Tabakmissbrauch belaufen sich auf direkte Kosten in Höhe von 25 Milliarden Euro und auf indirekte Kosten in Höhe von 50 Milliarden Euro. Wir vergeuden 75 Milliarden Euro an volkswirtschaftlichem Eigentum jedes Jahr dadurch, dass es uns nicht gelingt, den Tabakkonsum auf null zurückzudrängen.
Ich nenne ein weiteres Beispiel: Reha vor Rente. Wir haben in dieser Legislaturperiode die Mittel erhöht, die es möglich machen, vor dem Hintergrund der veränderten Altersschichtung und der Änderung des Renteneintrittsalters mehr Rehamittel zur Verfügung zu stellen. Ich sage: Ein Aspekt des Zukunftsentwurfs wird auch sein, ob es uns gelingt, Reha vor Pflege zu praktizieren.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wenn wir immer und immer wieder die Frage des Aufkommens der Finanzierung diskutieren, dann müssen wir an dieser Stelle auch ein bisschen ehrlich sein. Ich finde es schön, wie man die Lastenverteilung betreibt. Ich weiß auch, dass Lohnfortzahlung in Streiks erkämpft worden ist und Ausdruck einer Tarifvereinbarung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern war. Dennoch muss man natürlich die Belastung, die diese Leistung für die Produktivität des einzelnen Arbeitsplatzes darstellt, mit in die Lastenverteilung einkalkulieren. Dann muss man eben auch sagen, dass zu den direkten Kosten für die gesundheitliche Versorgung und für die Pflege noch einmal 40 Milliarden Euro für die Lohnfortzahlung hinzukommen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich sage nicht, dass das alles ungerecht verteilt ist, aber ich will sagen: Es langweilt mich inzwischen sehr, wie der Ansatz zur Bürgerversicherung immer wieder gewählt wird. In meinen Augen ist das ein Schildbürgerstreich.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Deswegen lassen Sie uns lieber bei der Debatte darüber bleiben, was uns in diesem Erfolgsbericht – und ich nenne diesen Bericht einen Erfolgsbericht – der Bundesregierung vorgetragen wird.
Frau Rawert hat ein paar Beispiele daraus genannt: Die Leistungen werden genutzt. Die Zahl der Leistungsempfänger der sozialen Pflegekasse ist im Zeitraum von 2011 bis 2015 von 2,3 Millionen auf 2,7 Millionen Menschen gestiegen; das ist ein Anstieg um 17 Prozent. Die Leistungsausgaben haben im gleichen Zeitraum um 27 Prozent zugenommen. Das Ende des Berichtszeitraums ist auch nicht der Endpunkt unserer Pflegepolitik; vielmehr werden weitere Maßnahmen ergriffen, deren Auswertung erst in weiteren Berichten erfolgen kann.
Die Leistungsausweitungen durch das Erste Pflegestärkungsgesetz kommen bei den Pflegebedürftigen an. Nehmen wir als Beispiel den Einbau einer altersgerechten Dusche in den Wohnraum. Die Leistungsausgaben für Wohnumfeldverbesserungen im Jahr 2011 betrugen 103 Millionen Euro. Im Jahr 2015 waren es 305 Millionen Euro. Ist das weniger oder ist das mehr Solidarität? Natürlich ist das mehr Solidarität und nicht weniger.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Auch die zusätzliche Betreuung in der häuslichen Pflege kommt bei den Leuten an. Im Bereichszeitraum haben sich die Ausgaben dafür von 330 Millionen Euro auf rund 680 Millionen Euro pro Jahr mehr als verdoppelt. Ist das weniger Solidarität, oder ist das mehr Solidarität? Es ist mehr Solidarität.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Das Thema Demenz bewegt viele Menschen und erfüllt sie mit Sorge und mit Angst. Für Menschen mit demenziellen oder psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen haben wir seit Verabschiedung des Pflegestärkungsgesetzes I, seit dem 1. Januar 2015, auch in der sogenannten Pflegestufe 0 Zugang zu allen Leistungen der Pflegeversicherung, die die häusliche Pflege stärken, weil sie seitdem Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege, den sogenannten Wohngruppenzuschlag und die Anschubfinanzierung für Wohngruppen in Anspruch nehmen können.
Sogar das eben erwähnte Prinzip „Reha vor Pflege“ ist zumindest im Ansatz leicht gestärkt worden, weil wir die Rehaempfehlungsquote von früher 0,6 Prozent über 1 Prozent auf 2,3 Prozent gesteigert haben, also die Anzahl der Pflegebegutachtungen, bei denen der MDK auftragsgemäß prüft, ob Rehabilitation ein Potenzial hat, und dann eine Rehaempfehlung ausspricht. Ich behaupte einmal: Da sind wir noch ein ganzes Stück von dem entfernt, was wir an Rehabilitationspotenzial wirklich haben. Dieses Potenzial werden wir – auch das ist eine Aufgabe für die Zukunft – weiter heben müssen. Ich glaube, dass das die Frage nach Zukunftsentwürfen zutreffend beantwortet und dass es nicht damit getan ist, hier immer wieder die gleiche Freitagmorgendebatte immer wieder in der gleichen Form zu führen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Es geht um mehr und bessere Pflegeberatung.
Am 1. Januar 2017 ist der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in Kraft getretenen. Ich will an Wolfgang Zöller erinnern, an unseren früheren stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und späteren Patientenbeauftragten der Bundesregierung. Er war Vorsitzender des Expertenbeirats zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Es erging uns mit diesem Pflegebedürftigkeitsbegriff – da wollen wir ganz ehrlich sein – ganz ähnlich, wie es uns mit der Präventionsgesetzgebung ergangen ist: viele Anläufe, immer wieder ein neuer Versuch. Es hat bis in diese Legislatur hinein gedauert, bis der Beschluss endlich gefasst werden konnte. Ich finde, es ist angebracht, Wolfgang Zöller und allen seinen Mitstreitern in diesem Beirat für das zu danken, was sie dort geleistet haben; denn jetzt wird der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wirksam.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Dies bedeutet: In der Pflegebegutachtung ist jetzt endlich Schluss mit der Vorstellung, dass man Pflegebedürftigkeit so ermitteln kann: Zähneputzen – 5 Minuten anerkannt; Waschen des Unterkörpers – 12 bis 15 Minuten anerkannt; mundgerechtes Zerkleinern der Nahrung – 2 bis 3 Minuten aufgeschrieben. Für das Anreichen von Nahrung pro Hauptmahlzeit – 15 bis 20 Minuten aufgeschrieben usw. usw.
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie noch nichts dran verändert!)
So war das bisher.
Jetzt stellt der MDK völlig andere Fragen. Durch dieses System wird zwar ein individueller Bedarf ermittelt, aber es werden dabei die kognitiven und psychischen Einschränkungen, die Demenzkranke haben und unter denen sie und ihre Angehörigen leiden, einbezogen. Welche Mobilität weist die Person auf?
(Thomas Stritzl [CDU/CSU]: Genau!)
Welche kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten hat sie? Wie wird die Verhaltensweise eingestuft? Gibt es psychische Probleme? Wie gut kann sich der Betreffende selbst versorgen? Wie selbstständig kann er mit krankheits- oder therapiebedingten Belastungen umgehen? Wie gut kann er seinen Alltag gestalten und soziale Kontakte pflegen? Und: Niemand muss Sorge haben, dass er nach dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff Leistungen gekürzt bekommt. Im Regelfall werden die Leistungen höher sein als vorher.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Es hat gegen die solidarische Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer keinerlei Widerspruch gegeben, sondern das ist gesellschaftlich akzeptiert worden, weil die Menschen eingesehen haben, dass alle diese Schritte notwendig sind, wenn man den Herausforderungen – demografischer Wandel, Demenz, Dynamisierung von Leistungen – begegnen will.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja, ich komme zum Schluss. – Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Bilanz dieser Debatte kann nicht das Bild sein, wir hätten weniger Solidarität und weniger Gerechtigkeit. Wir haben mehr davon: mehr Solidarität, mehr Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung und in der Pflege. Das ist eine große Leistung dieser Koalition. Ich finde, das muss auch betont werden; –
(Thomas Stritzl [CDU/CSU]: Genau!)
Herr Kollege, ich muss Sie jetzt wirklich ermahnen.
– denn wenn wir die Leistungen von Regierungen und Parlamenten in Demokratien nicht darstellen oder falsch darstellen, lösen wir damit Parlamentsverachtung und Politikverdrossenheit aus. Das ist das, was wir am allerwenigsten brauchen können.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Sabine Dittmar hat als nächste Rednerin für die SPD-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7093424 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 229 |
Tagesordnungspunkt | Finanzierung von Gesundheitsversorgung und Pflege |