27.04.2017 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 231 / Tagesordnungspunkt 5 + 38

Markus KurthDIE GRÜNEN - Rentenpolitik

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich glaube, man muss zu diesem Zeitpunkt der Debatte den Menschen draußen im Land und auch den vielen jungen Menschen heute hier auf der Tribüne eines klarmachen: Die gesetzliche Rentenversicherung, die umlagefinanzierte, ist grundsätzlich leistungsfähig, solidarisch und anpassungsfähig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

– Ja, ich glaube, da können wir eigentlich alle klatschen.

Die gesetzliche Rentenversicherung ist so leistungsfähig, dass sie in den mehr als 125 Jahren ihres Bestehens nur in einem einzigen Monat die Rentenzahlung nicht pünktlich geleistet hat, und das war der Mai 1945. Sie ist so solidarisch, dass sie die große Anstrengung der deutschen Einheit mit bewältigt hat. Wir hätten uns die Finanzierung anders vorgestellt, aber das System der deutschen Rentenversicherung hat das geschafft. Sie ist so anpassungsfähig, dass sie das Leistungsspektrum weiterentwickelt hat. Beispielhaft sei hier nur die berufliche Rehabilitation genannt, wo die gesetzliche Rentenversicherung beispielsweise in ihren Berufsförderungswerken bei Neuausbildungen und anderem Großartiges leistet. Ich glaube, das muss ich zu Beginn meines Beitrages der Schwarzmalerei, die von der Fraktion Die Linke kommt, entgegenstellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Mit dem so beschriebenen Spektrum ist die gesetzliche Rente jedem kapitalmarktgestützten System haushoch überlegen. Manche neoliberalen Ökonomen, die unter Beweis stellen wollen, dass der Aktienmarkt die Alterssicherung genauso gut oder sogar noch besser übernehmen könne, nennen gerne folgendes Argument. Sie sagen, in jedem beliebigen, 20 Jahre umfassenden Zeitraum seit Ende des Zweiten Weltkrieges habe der Aktienmarkt eine positive Rendite gebracht. 20 Jahre! 20 Jahre sind nicht einmal ein halbes Erwerbsleben. 40 Jahre – denken wir in diesen Zeiträumen? 60 Jahre? Nein, es kann bis zu 80 Jahre dauern: von der ersten Beitragszahlung bis zum letzten Schnaufer auf dem Totenbett. Das sind die Zeiträume, mit denen die gesetzliche Rentenversicherung, das Umlagesystem, operiert. Das muss man sich einmal vor Augen halten.

(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Deswegen bestreitet die gesetzliche Rentenversicherung auch 90 Prozent der Gesamtausgaben für die Alterssicherung; das sind im Moment knapp 300 Milliarden Euro. Die kapitalgestützte Vorsorge ist eine zusätzliche Alterssicherung, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Darum sollten wir vielleicht nicht von einem Drei-Säulen-System sprechen, sondern besser von einem Drei-Schichten-System mit einem Fundament – das ist die gesetzliche Rentenversicherung – und darauf aufbauend weiteren Sicherungsbereichen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Cappuccino-Modell!)

Gleichwohl ist die Rentenversicherung natürlich nichts Statisches, was unveränderlich ist. Man redet in der Öffentlichkeit immer gerne vom Bismarck-System. Wenn die Versicherung immer noch so wäre, wie sie zu Bismarcks Zeiten war, dann gäbe es sie gar nicht mehr.

(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Genau!)

Sie hat sich weiterentwickelt, und auch Bündnis 90/Die Grünen wollen sie weiterentwickeln und stabilisieren.

Was braucht es dazu? Ich will mich auf drei Kernpunkte beschränken: Wir brauchen eine vernünftige Einkommensversicherung – damit wird das Thema Rentenniveau adressiert –, wir brauchen eine verlässliche Armutssicherung, und wir brauchen eine funktionierende Solidargemeinschaft.

Ich will mit dem letzten Punkt anfangen. Wir brauchen diese funktionierende Solidargemeinschaft, und darum wollen wir die Bürgerversicherung – aus zwei Gründen:

Zum einen verändert sich die Arbeitswelt. Wir haben es mit neuen Formen von Selbstständigkeit zu tun. Dort drohen auch neue Formen von Altersarmut. Darum ist es eine sozial- und ordnungspolitische Aufgabe, den Kreis der Versicherten zuerst insbesondere um die nicht anderweitig abgesicherten Selbstständigen zu erweitern.

Zum anderen brauchen wir als funktionierende Solidargemeinschaft eine Bürgerversicherung, weil die Versicherten – die Mehrheit der Bürger in diesem Land –, glaube ich, merken und es nicht gut finden, dass sich Leute vom Acker machen. Sie unterstellen ihnen – häufig ist es ja auch so –, dass sie in einer wirtschaftlich besseren Situation sind. Wir wollen perspektivisch alle einbeziehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier blicke ich auch auf uns. Auch wir Abgeordnete müssen in die Bürgerversicherung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: In die Erwerbstätigenversicherung!)

Es wird viel ausmachen, wenn die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass auch wir Abgeordnete das, was wir hier beschließen, in unserer Renteninformation sehen werden. Das ist ein wichtiger Schritt für mehr Akzeptanz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie von der Großen Koalition – das kann ich Ihnen nicht ersparen – haben in der vergangenen Legislaturperiode durch Sonderregelungen für Honorarärzte und für angestellte Anwälte, sogenannte Syndikusanwälte, die funktionierende Solidargemeinschaft, die besteht, leider sogar noch ausgehöhlt. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Bündnis 90/Die Grünen wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Daneben brauchen wir die Armutssicherung. Wer in seinem Leben mehr als 30 Jahre lang gearbeitet, Kinder großgezogen und Eltern gepflegt hat, vielleicht auch einmal ein, zwei oder drei Jahre arbeitslos war, also eine halbwegs intakte Erwerbsbiografie vorweisen kann, aber nur sehr wenig verdient hat, der muss mindestens 30 Entgeltpunkte, also eine Rente oberhalb des Existenzminimums, haben.

(Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Wir sagen: Auch Ansprüche aus der Betriebsrente und der Riester-Rente müssen geschützt sein. Sie dürfen auf diese Garantierente nicht angerechnet werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 30 Jahre: Das steht nicht in eurem Antrag!)

Der letzte Punkt, den ich hier noch ansprechen kann, ist die Einkommensversicherung. Es geht um das Rentenniveau. Hier bildet sich ein neuer Konsens; das finde ich schon einmal gut.

Der Arbeitnehmerflügel der CDU hat, wie ich gehört habe, 45 Prozent angepeilt, Andrea Nahles schlägt ein Rentenniveau von 46 Prozent vor. Wir haben auf unserem letzten Parteitag unser Wahlprogramm beschlossen, nach dem das Rentenniveau nicht weiter sinken sollte. Das heißt, wir haben hier schon eine Orientierungsmarke. Die brauchen wir auch, weil sonst die Angehörigen der Mittelschicht, die wir für dieses System brauchen, nicht mehr erkennen können, dass ihr Einkommen anständig versichert ist.

Aber natürlich muss man das vernünftig finanzieren.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir haben einen Vorschlag gemacht!)

Dafür machen wir verschiedene Vorschläge: Wir wollen die Erwerbsbeteiligung von Frauen weiter vorantreiben;

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sehr gut!)

Zuwanderung kann zwar nicht kurzfristig, aber perspektivisch zur Finanzierung beitragen; auch die Erweiterung des Versichertenkreises im Rahmen einer Bürgerversicherung wird zumindest helfen, den demografischen Buckel zu bewältigen, und natürlich müssen wir durch eine alters- und alternsgerechte Gestaltung der Arbeitswelt die Voraussetzungen dafür schaffen,

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig!)

dass wir besser, länger und gesünder arbeiten können.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Macht die Linke mit!)

Das ist eine Finanzierungsgrundlage, die es erlaubt, dass sich eventuelle Beitragsanstiege im Rahmen halten.

Wir könnten mit der Verbesserung der Finanzierung der Rentenversicherung sofort anfangen, wenn wir Dinge wie die Mütterrente nicht aus Beitragsgeldern, sondern aus Steuergeldern finanzieren würden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Auch hier, muss man sagen, haben Sie von der Großen Koalition in den letzten vier Jahren wieder etwas versagt.

Meine Damen und Herren, Sie sehen also: Die Rentenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen, unser Gesamtkonzept, das wir in dieser Debatte vorgelegt haben, versucht, das Wünschenswerte, das Machbare und das Notwendige zusammenzubringen und nachhaltig zu entwickeln. In Anlehnung an unsere Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt möchte ich auf jeden Fall sagen: Was wir hier vorschlagen – lesen Sie es im Internet nach –, das ist ein heißes Ding.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der war gut!)

Vielen Dank. – Jetzt hat Dr. Martin Rosemann für die SPD-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7102726
Wahlperiode 18
Sitzung 231
Tagesordnungspunkt Rentenpolitik
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