Fritz FelgentreuSPD - Historische Verantwortung für die Ukraine
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „ Nad Bab’im Jarom pamjatnikow net“, „über Babi Jar, da steht keinerlei Denkmal“ – dieser berühmte Stoßseufzer am Anfang von Jewgenij Jewtuschenkos monolithischem Gedicht über das Massaker an den Kiewer Juden im Herbst 1941 wirkt auf mich ein bisschen wie eine abschließende Verdichtung vieler Beweggründe für Ihren Antrag, liebe Frau Beck. Im übertragenen Sinne kann dieser Ort, der als denkmalsloser in die Weltliteratur eingegangen ist, für das Verhältnis immer noch zu vieler Deutscher zur Ukraine stehen. Der Ukraine scheint gleichsam die Landmarke, das Erkennungsmerkmal, zu fehlen. Es fällt zu vielen von uns immer noch schwer, neben dem gewaltigen Russland, das so großen Raum im kollektiven Bewusstsein in Anspruch nimmt, die Ukraine überhaupt als europäisches Land mit eigener Identität und eigener Geschichte angemessen wahrzunehmen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Darauf hat sie aber einen Anspruch, sowohl aus eigenem Recht als auch aus einer historischen Verantwortung Deutschlands heraus. Es ist ein Verdienst des Antrags der Grünen, diesen Anspruch zu begründen.
Die junge Generation, die bereits in einer unabhängigen Ukraine aufgewachsen ist, sieht sich mit unzähligen Herausforderungen und Problemen konfrontiert. Es handelt sich dabei nicht nur, aber auch um Spätfolgen historischer Katastrophen, für die Deutschland einen großen Teil der Verantwortung trägt. Zweimal hat Deutschland auf ukrainischem Boden zerstörerisch Krieg geführt, ein weiteres Mal brachte der Vormarsch der sowjetischen Armeen große Verwüstungen mit sich.
Dass der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion auf dem Boden der Ukraine ausgekämpft wurde, ist eine Tatsache, die wir uns manchmal nicht genügend bewusst machen.
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)
Die Erschütterungen und inneren Konflikte, die diese Kriege ausgelöst, und die Opfer, die sie gekostet haben, zeichnet der vorliegende Antrag nach. Sie haben der Ukraine ihren Stempel aufgedrückt. Ihre Nachwirkungen sind bis heute spürbar.
Das Anliegen des Antrags und die einzige Forderung, die er erhebt, erscheinen mir daher durchaus sinnvoll und berechtigt. Die SPD-Fraktion wird aber den Antrag dennoch so, wie wir ihn heute lesen, nicht beschließen können. Gestatten Sie mir, drei Gründe dafür auszuführen.
Erstens bedarf eine Positionsbestimmung des Deutschen Bundestages in einer so wichtigen Frage einer gemeinsamen Anstrengung aller Fraktionen, die dazu bereit sind.
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich seit Monaten versucht!)
Der Antrag einer einzigen Fraktion ist dafür doch eine zu schmale Grundlage. Bisher haben Grüne, SPD und Union nicht zu einer gemeinsamen Haltung gefunden,
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt erklären Sie uns doch einmal, warum!)
und mit der Fraktion der Linken dürfte sie gar nicht erreichbar sein.
Ob die Ausschussberatungen noch Fortschritte bringen werden, müssen wir ausloten.
Herr Felgentreu, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder eine Bemerkung von Frau Beck?
Ja bitte, gern.
Verehrter Herr Kollege, dieser Antrag war im September des vergangenen Jahres fertig. Ich habe über Monate hinweg – das können die Kollegen von der SPD und von der CDU/CSU bestätigen – darum geworben und gebeten, dass wir gemeinsam an diesem Antrag arbeiten, um ihn gemeinsam einbringen zu können. Ich habe mit der Einbringung gewartet bis November 2016, um ebendiese Gelegenheit zu geben, daran zu arbeiten. Ich habe dann weiterhin bis in die Fraktionsspitzen hinein trotz des Ärgers mit den Kollegen fast bis zu dem Punkt, an dem ich dachte: „Ich nerve meine Kollegen“, immer wieder darum gebeten: Lasst uns gemeinsam etwas machen.
Vielleicht können wir das Ganze voranbringen. Wir werden noch eine Debatte zur Östlichen Partnerschaft haben. Ich lade beide Fraktionen dazu ein, an diesem Antrag in der von Ihnen gewünschten Weise zu arbeiten. Wir könnten ihn dann zu dieser Debatte über die Östliche Partnerschaft gemeinsam einbringen. Es besteht bei uns jede Offenheit für Ergänzungen und Veränderungen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)
Das ist vielleicht ein ganz gutes Stichwort. Ich bin ja kein Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, wie Sie wissen, und ich bin deswegen nur aus zweiter Hand über die Abstimmungsprozesse informiert, die im Hintergrund im Laufe der letzten zwölf Monate stattgefunden haben.
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt aus erster Hand!)
Ich meine mich aber zu erinnern, dass ursprünglich ein Problem im Umgang mit dem Vorschlag der Grünen darin lag, dass er eigentlich auf eine Stellungnahme zum Jahrestag des Massakers von Babi Jar im vergangenen Jahr ausgerichtet und dass der Beratungszeitraum relativ kurz war.
Andererseits gab es zumindest bisher von grüner Seite keine große Bereitschaft, den historischen Blickwinkel, den sie einnehmen, um eine Perspektive auf die Gegenwart zu ergänzen.
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht wahr! – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an den Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD] gewandt: Herr Mützenich, würden Sie das bitte richtigstellen?)
Es ist schwierig gewesen, eine Abstimmung vorzunehmen; so habe ich es zumindest verstanden.
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wäre schön, wenn der Kollege Mützenich Ihren Eindruck richtigstellen würde!)
Herr Felgentreu, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung von Niels Annen?
Er möchte dazu wohl eine Stellungnahme abgeben. Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich glaube, wir müssen das hier schon ein bisschen klarstellen.
Eben.
Es ist in der Tat richtig: Der Antragstext von Frau Beck lag seit langem vor. Aber was Frau Beck hier nicht erwähnt, ist, dass vonseiten der Koalitionsfraktionen ebenfalls die Bereitschaft vorlag, darüber zu diskutieren. Sie wissen, wir haben einen Koalitionsvertrag geschlossen. Normalerweise beschließen wir als Koalitionsfraktionen in diesem Parlament die Anträge, die wir gemeinsam in den Bundestag einbringen. Das heißt, es gab ein großes Entgegenkommen. Aber wir wollten gemeinsam, dass wir uns nicht – ich sage das in Anführungszeichen – „nur“ über die Ukraine unterhalten, sondern dass wir einen gemeinsamen Antrag zu unserer Politik, was die Östliche Partnerschaft angeht, auf den Weg bringen – auch aus dem Grund, den der Kollege Felgentreu hier gerade vorgetragen hat: dass geschichtspolitische Beschlüsse des Parlamentes einer großen gesellschaftlichen Debatte bedürfen.
Das heißt, die Bereitschaft der Koalitionsfraktionen, Impulse des grünen Antrags aufzunehmen, ist immer da gewesen, ist aber von der sehr geschätzten Kollegin Beck stets abgelehnt worden, weil sie, was ihr gutes Recht und das Recht der Grünenfraktion ist, darauf bestanden hat, einen Antrag – in Anführungszeichen – „nur“ zur Ukraine zu verabschieden.
Deswegen werden Sie sich, wenn Sie sich den Entwurf des Antrags zur Östlichen Partnerschaft, den wir einbringen werden, anschauen, selber davon überzeugen können, dass wir einen Schwerpunkt auf die Ukraine legen, dass wir dort auch historische Bezüge formulieren, aber hier eben ganz explizit keinen geschichtspolitischen Antrag einbringen wollen. Insofern werden wir natürlich in den Ausschussberatungen darüber miteinander sprechen. Aber ich finde, wir müssen hier schon bei der Wahrheit bleiben. Das heißt, dass die Dialogbereitschaft vonseiten unserer Fraktion immer gegeben gewesen ist. Deswegen sollte man das hier in einer Debatte, die wir angemessen miteinander führen wollen, richtigstellen.
Vielen Dank.
Vielen Dank, lieber Kollege Annen. – Frau Beck, ich bitte um Verständnis: Ich glaube, wir sollten hier jetzt nicht die Ausschussdebatte vorwegnehmen. Für eine solche Debatte ist ja der Ausschuss da. So wie es der Kollege Annen hier eben dargestellt hat, so ist die Kommunikationssituation zumindest auch bei mir angekommen. Das habe ich auch zur Grundlage meiner Ausführungen hier gemacht, die noch ein bisschen weitergehen sollen. Auf genau diese Punkte werde ich noch eingehen.
Wie ich eben gesagt habe: Neben einer Positionsbestimmung, die sich der historischen Verantwortung stellt – davon bin ich fest überzeugt –, brauchen wir auch den Blick auf die Gegenwart. Ohne ihn kommen wir nicht aus. Ich finde, das, was Ute Finckh-Krämer gesagt hat, zeigt deutlich, warum das so ist und dass das unbedingt in eine solche Positionsbestimmung des Deutschen Bundestages hineingehört. Anteilig wird dieser Blick jetzt in einem umfassenden Antrag zur Weiterentwicklung der Östlichen Partnerschaft von den Koalitionsfraktionen vorbereitet. Ich würde mich freuen, wenn es gelänge, beide Perspektiven, die historische und die aktuelle, zusammenzuführen.
Wir brauchen tatsächlich ein noch genaueres Nachdenken darüber, wodurch sich die deutsche Haltung gegenüber der Ukraine in Abgrenzung von ihren Nachbarstaaten eigentlich auszeichnet. Entweder tun wir das, oder wir müssen mindestens Weißrussland, wahrscheinlich aber auch die Moldau und einige andere Staaten in eine breiter angelegte Positionsbestimmung einbeziehen; denn fast alles, was wir zur deutschen Verantwortung gegenüber der Ukraine formulieren, wäre ähnlich oder gleich auch über Weißrussland zu sagen. Damit wird die Aufgabe, eine Haltung und Richtung festzulegen, noch komplexer, als sie sowieso schon ist; denn bei aller Ähnlichkeit der historischen Erfahrungen sehen wir in der Gegenwart beider Länder doch sehr große Unterschiede.
Die SPD-Fraktion wird deshalb, wie eben deutlich geworden ist, die Initiative der Grünen bei der Beratung im Ausschuss konstruktiv würdigen. Ich traue diesem Parlament zu, etwas Gutes daraus erwachsen zu lassen. Aber es könnte sich am Ende in einer ganz anderen Gestalt präsentieren, als wir heute absehen können.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD)
Vielen Dank, Dr. Felgentreu. – Letzter Redner in dieser Debatte: Dr. Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7111313 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 235 |
Tagesordnungspunkt | Historische Verantwortung für die Ukraine |