19.05.2017 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 235 / Tagesordnungspunkt 39

Hans-Peter UhlCDU/CSU - Historische Verantwortung für die Ukraine

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Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Unionsfraktion – das vorab – versteht Ihr Anliegen, Frau Beck, bzw. das Anliegen der Grünen durchaus. Wir sind auch bereit – das waren wir auch zuvor schon –, dem Anliegen Ihres Antrags in dem ihm gebührenden größeren Rahmen der bereits erwähnten Östlichen Partnerschaft nachzukommen und eine möglichst breite Übereinstimmung im Umgang mit den Themen zu finden, über die ich jetzt kurz sprechen möchte.

Bei der Lektüre Ihres Antrags, Frau Beck, erfasst uns wieder einmal das Erschrecken und Entsetzen über den menschenverachtenden Rassismus, die nationalsozialistische Ideologie und die enthemmte und mörderische Durchsetzung dieses ganz abstrusen Gedankengebäudes. Diese Debatte über die historische Verantwortung Deutschlands für die Ukraine bietet eine gute Gelegenheit, wichtige Fragen zu stellen.

Wie wird die Ukraine in Deutschland wahrgenommen? Die so lange gewohnte Wahrnehmung der Ukraine als Teil der Sowjetunion hindert bisweilen daran, sich der historischen Identität als Grundlage eines souveränen Staates bewusst zu sein, eines Staates mit eigener Geschichte, mit eigener Sprache, mit eigenen Sitten und Bräuchen sowie – das ist wichtig – einer kulturell auf Europa ausgerichteten Bevölkerung.

(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut! So ist es!)

Was wissen wir in Deutschland über die Masseninhaftierungen und Massenhinrichtungen der ukrainischen Schriftsteller, Publizisten und Künstler in den 20er- und 30er-Jahren, die sogenannte erschossene Renaissance in der Ukraine? Was wissen wir über den Holodomor,

(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)

den millionenfachen Völkermord Stalins durch gewolltes Verhungernlassen in den Jahren 1932/1933? Was wissen wir über die massiv unterdrückte Dissidentenbewegung in der Ukraine in den 60er-Jahren? Was wissen wir über die studentische „Revolution auf dem Granit“ – so wird sie genannt – auf dem Kiewer Maidan im Oktober 1990? Die historische Verantwortung Deutschlands für die Ukraine besteht auch darin, das Wissen über die Ukraine in Deutschland zu vertiefen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Erst nach dem Euromaidan 2014 wurde die erste Deutsch-Ukrainische Historikerkommission gegründet – das wurde bereits erwähnt –, und erst im vergangenen Jahr hat das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien seine Arbeit aufgenommen.

Ja, es ist die Aufgabe dieses Deutschen Bundestages, der historischen Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Das friedliche Zusammenleben der Völker, die Versöhnung einer Nation mit sich selbst und mit ihren Nachbarn setzt die wahrheitsgetreue Aufarbeitung der Geschichte voraus. Die Interpretation der Ereignisse im Einzelnen und ihre historische Einordnung sind aber nicht Aufgabe des Staates. Wir lehnen eine ukrainische Staatsgeschichtsschreibung ebenso ab wie die bekannte sowjetische Interpretation der Geschichte; wir lehnen beides gleichermaßen ab. Stattdessen ist es die Aufgabe von Historikern, die geschichtlichen Abläufe wissenschaftlich, wahrheitsgetreu darzustellen.

Durch die Annexion der Krim und das aktive Einmischen im Osten der Ukraine hat Russland die territoriale Integrität der Ukraine verletzt und internationale Verträge wie das Budapester Memorandum und die Schlussakte von Helsinki gebrochen. Das ist unsere feste Überzeugung; dies muss immer wieder erwähnt werden. Mit einer Desinformationskampagne und der propagandistischen Geschichtsinterpretation versucht Russland nun, die Ukraine weiter zu schwächen und sie als gescheiterten Staat darzustellen.

Wir sind uns in diesem Hause bewusst, dass es im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland nicht um eine kurzfristige Krise geht. Es geht um die Deutungshoheit und künftige Bestimmung historischer Diskurse in ganz Europa, in denen auch Platz sein muss für die ukrainische Sicht der Dinge. Das Bekenntnis zur territorialen Integrität und unsere Hilfe bei den Transformations- und Demokratisierungsprozessen in der Ukraine dürfen deshalb nicht auf einem Opferdiskurs allein begründet werden.

Unsere Unterstützung der Ukraine bedarf auch nicht der Sonderbegründung einer zusätzlichen historischen Verantwortung. Nur weil wir wissen, welche Verantwortung wir haben und wie die Dinge sich in den letzten Jahren entwickelt haben, wollen wir den Antrag unterstützen und ihn im größeren Kontext der Östlichen Partnerschaft behandeln. Wir sind noch einige Sitzungswochen beiei­nander, Frau Kollegin Beck, Sie und ich und die restlichen Kollegen.

(Heiterkeit)

In dieser Zeit werden wir versuchen, diesen Gedanken von Ihnen, Frau Beck, in würdiger und korrekter Form weiterzuentwickeln. Es geht um eine Weiterentwicklung, die die Ukraine nicht nur als Opfer Nazideutschlands, als Opfer Russlands sieht, sondern die der kulturellen und historischen Souveränität der Ukraine gerecht wird. Das ist unser Anliegen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7111314
Wahlperiode 18
Sitzung 235
Tagesordnungspunkt Historische Verantwortung für die Ukraine
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