02.06.2017 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 238 / Tagesordnungspunkt 42 + ZP 9

Matthias ZimmerCDU/CSU - Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht

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Herzlichen Dank, Frau Präsidentin, auch für die freundliche, gleich doppelte Ankündigung. – Liebe Frau Kollegin Kolbe, man hatte bei Ihnen streckenweise den Eindruck, Sie würden nicht dieser Koalition angehören. Dabei hat die Bundesregierung, die von dieser Koalition getragen wird, auch mit der Arbeitsministerin Andrea Nahles Vorzügliches geleistet. Ich finde, das sollten wir auch einmal anerkennen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Daniela Kolbe [SPD]: Habe ich ja angesprochen! Die Zeit war zu kurz!)

Meine Damen und Herren, ich will den Armuts- und Reichtumsbericht einmal nutzen, um die Rituale der dadurch ausgelösten Verteilungsdebatten infrage zu stellen. Ich frage: Wie können wir langfristig sicherstellen, dass unsere Gesellschaft nicht auseinanderfällt? Hier sollten wir, so finde ich, die Frage von Leistungs-, Teilhabe- und Verteilungsgerechtigkeit auf die Umwälzungen unserer Arbeitswelt beziehen.

Ich will drei Herausforderungen skizzieren.

Die erste Herausforderung sehe ich in der Bilanz der sogenannten vierten industriellen Revolution. Das Weltwirtschaftsforum geht davon aus, dass durch diese industrielle Revolution zwar neue Arbeitsplätze geschaffen werden, dies aber bei weitem nicht ausreicht, um die Arbeitsplätze zu kompensieren, die verloren gehen. Ich finde, wir sollten uns Folgendes überlegen: Wenn es Arbeit ist, die bei uns Sozialsysteme finanziert, und wenn es Maschinen sind, die die Arbeit ersetzen, sollten dann nicht Maschinen herangezogen werden, unsere Sozialsysteme mitzufinanzieren? Müssen wir über eine Maschinensteuer nachdenken? Ich finde, nachdenken ist nie falsch, und Frageverbote darf es nicht geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Darüber hinaus: Es kann doch nicht klug sein, wenn wir nur noch Produzenten haben, aber keine Konsumenten mehr, die Produkte nachfragen. Es hilft also keinem, wenn wir die Nachfrage durch Freisetzung von Arbeitskräften systematisch schwächen, auch wenn es betriebswirtschaftlich sinnvoll sein mag. Aber die Summe betriebswirtschaftlicher Rationalitäten mündet eben nicht in ein wirtschaftliches Gemeinwohl.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das stimmt!)

Eine zweite Herausforderung sehe ich in der möglichen Zerfaserung der Arbeitswelt. Karl Marx hat in der Deutschen Ideologie das Reich der Freiheit einmal konkretisiert als die Möglichkeit, morgens zu jagen, mittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben und nach dem Essen zu kritisieren, ohne jemals Jäger, Fischer, Hirte oder Kritiker zu werden. Eine wahrhaft noble Vision! Wir müssen uns aber heute eher der Gefahr erwehren, dass in absehbarer Zeit durch Internetplattformen ein Arbeitnehmer morgens Buchhaltung macht, mittags Sekretariatsaufgaben erledigt, abends Pflegedienste leistet und nach dem Essen die Akquise der Aufträge für den Folgetag macht, ohne jemals Buchhalter, Bürofachkraft oder Pfleger zu sein, weil man eigentlich soloselbstständig ist und die soziale Absicherung in weite Ferne gerückt ist. Das Reich der Freiheit wäre damit ebenso in weite Ferne gerückt wie verlässliche soziale Perspektiven. Das wäre das Aufkommen eines digitalen Prekariats, unfähig, sich als Gemeinschaft zu organisieren, zerfasert sowohl in der Arbeit als auch in der Arbeitsorganisation, die endgültige Reduktion des Einzelnen auf einen Kostenfaktor.

Man muss ja die Vision von Marx nicht teilen. Aber der Sumpf der bloßen Notwendigkeit, der sich hier als Gefahr auftut, entspricht auch nicht unserem Menschenbild als christliche Demokraten. Zugegeben, eine düstere Vision. Aber schon heute tun wir ja so, als ob das Heil aller Arbeitnehmer darin liege, über Arbeit 4.0 mehr Flexibilität zu haben, örtlich und zeitlich. Das halte ich für zu kurz gegriffen. Ein Zugewinn an Flexibilität ist nicht gleichzusetzen mit einem Zugewinn an Autonomie oder gar an Emanzipation.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

Die dritte Herausforderung: die Organisation lebenslangen und übergreifenden Lernens. Der Schlüssel zur Befreiung aus materieller Deprivation liegt in der Bildung. Da sind Schulen und Hochschulen ebenso gefragt wie Betriebe und die Sozialpartner. Ich vermute, dass hier langfristig diejenigen Bildungssysteme im Vorteil sind, die inklusiv angelegt sind und Bildungschancen nicht von der Finanzkraft der Eltern abhängig machen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Wahr ist allerdings auch: Die bloße Ausbildung von Fertigkeiten zur Verstetigung von Berufsperspektiven im Besonderen und des wirtschaftlichen Wachstums im Allgemeinen mag zwar notwendig sein, ist aber nicht hinreichend für ein gutes Leben. Wer seinen Lebenszweck ausschließlich in Formen des Geldverdienens und einem zweckfreien Hedonismus sieht, trägt zu Formen geistiger und spiritueller Armut bei, die eine Gesellschaft ebenso schädigen können wie materielle Armut.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen: Bei allem Verständnis für MINT-Fächer, unser Leben bereichern eher diejenigen Fächer, die uns die Möglichkeit der Reflexion auf uns selbst geben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Die Zukunft, schrieb Rilke einmal, tritt in uns ein, „um sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht.“ Das ist unsere Chance, unsere Wirtschaft nach dem Bild von uns in uns zu gestalten und damit auch maßgeblich die Berichterstattung über Armut und Reichtum in den nächsten Jahren schon jetzt zu schreiben, bevor sie geschrieben wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vielen Dank. – Jetzt hat Ulrike Bahr für die SPD-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7115620
Wahlperiode 18
Sitzung 238
Tagesordnungspunkt Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht
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