Ulrike BahrSPD - Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Heute machen wir einen Schritt hin zu Lösungen für eine völlig unterversorgte Personengruppe. Seit ich im Deutschen Bundestag wirken darf, begleitet mich dieses Thema, und ich bin sehr froh, dass wir diesen Schritt jetzt endlich gehen, und zwar gemeinsam mit einem interfraktionellen Antrag.
Ich möchte Ihnen mit einem Beispiel illustrieren, was es für die ganze Familie bedeutet, wenn ein Elternteil psychisch erkrankt, und wie schwierig es ist, abgestimmte Hilfen zu bieten, obwohl viele Menschen mitbekommen, dass in der Familie etwas nicht rundläuft. Aber es hat eben niemand eine Gesamtverantwortung oder auch bloß die Autorität, eine Gesamtversorgung mit unterschiedlichen Hilfen zu steuern.
Frau Mayer, wie wir sie einmal nennen wollen, lebt in Augsburg. Sie ist in einem Altenheim in Teilzeit beschäftigt und mit einem Polizisten verheiratet, der im Schichtdienst arbeitet und sich außerdem mit viel Sport fit halten muss. Schon immer hat die Mutter die Verantwortung für die Kinder ganz überwiegend übernommen. Die Großeltern wohnen weit entfernt und können nicht einspringen.
Seit zwei Jahren hat Frau Mayer immer mal wieder psychische Krisen mit akuter Angst und Wahnideen, die in Schüben verlaufen. Der Sozialpsychiatrische Dienst hatte sie phasenweise betreut. Die Schwangerschaft mit ihrem dritten Kind war für Frau Mayer problematisch. Sie entwickelte starke Ängste, die zwar ihrer Frauenärztin und dem Hausarzt auffielen, die beide aber nicht weiter zum Thema machten. Während akuter Krisen geht Frau Mayer nicht aus dem Haus, auch nicht zum Einkaufen. Das müssen während dieser Phasen ihr Ehemann oder die älteste Tochter, elf Jahre alt, erledigen.
Seit der Geburt ihres dritten Kindes vor vier Monaten schafft sie die Grundversorgung der Familie zunehmend nicht mehr. Sie verwahrlost nach außen, schämt sich sehr und ist überzeugt davon, keine gute Mutter mehr zu sein. Das prägt ihr Verhalten den Kindern gegenüber, das von hoher Sprunghaftigkeit und emotionaler Instabilität gekennzeichnet ist. Zunehmend werden die Kinder auch ein Bestandteil ihrer Ängste. Das führt dazu, dass sie die Kinder möglichst bei sich in der Wohnung haben möchte. Sie ist aber nicht in der Lage, sich länger mit ihnen zu beschäftigen.
Die Kinder zeigen alle auf ihre Art, dass sie unter der Situation leiden. Der Nachbarin ist aufgefallen, dass das vier Monate alte Baby sehr viel weint. Sie hat aus Sorge um das Kind das Jugendamt angerufen. Die Mutter hat die letzte vorgesehene Untersuchung des Babys beim Kinderarzt versäumt.
Ihr mittleres Kind, ein sechsjähriger Junge, steht kurz vor dem Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. Er hat wieder angefangen, nachts einzunässen, träumt schlecht und wacht manchmal schreiend auf. In den Kindergarten kommt er oft ohne Frühstücksbrot und fällt den Erzieherinnen manchmal durch unpassende Kleidung auf. Er ist ein sehr unauffälliges und ängstliches Kind, zieht sich immer mehr zurück und hat keine Freunde. Im Kindergarten bekommt er zusätzliche Sprachförderung.
Die große Schwester besucht die Realschule. Sie ist eine gute Schülerin, jedoch insgesamt sehr zurückhaltend. Es fällt auf, dass sie sehr umsichtig ist, dabei aber kaum eigene Bedürfnisse anmeldet oder durchsetzt. Mittags nach der Schule geht sie direkt nach Hause. Manchmal geht sie alleine einkaufen. Der Bruder erzählt, dass seine Schwester das Essen macht, wenn Mama wieder komisch ist. Die wenigen Freunde der Familie haben sich zurückgezogen und machen sich aus der Ferne Sorgen.
Das Beispiel zeigt: Die schwierige Lage der Familie ist eigentlich vielen bekannt. Der Sozialpsychiatrische Dienst hatte schon Kontakt. Der Hausarzt und die Frauenärztin haben die Probleme zumindest im Ansatz gesehen; die Hebamme und der Kinderarzt sehen sie auch. In der Kita, der Schule und auch beim Jugendamt liegen Informationen vor. Aber niemand handelt; denn es gibt keine geregelte und vor allem finanzierte Netzwerkarbeit der jeweiligen Systemvertreter. Die Akteure aus dem Gesundheits- und Jugendhilfebereich, aus den Betreuungs- und Bildungseinrichtungen brauchen einen rechtlichen und finanziellen Rahmen für die Möglichkeit einer anonymisierten Fallbesprechung. Bei Familie Mayer – wie auch bei vielen anderen ähnlich gelagerten Fällen – sind zwar zeitgleich mehrere Unterstützersysteme und Fachkräfte aktiv, aber sie wissen nichts voneinander und nehmen nur ihre eigene Fachlichkeit wahr.
Familien mit einem psychisch kranken Elternteil, dessen Erkrankung vielleicht in Schüben verläuft, bedürfen einer flexiblen Unterstützung, die sich mal an die kranke Mutter, mal an die Kinder und dann wiederum an alle richtet. Je nach dem aktuellen Bedarf der jeweiligen Familienmitglieder ist mal das eine Unterstützersystem, dann wieder ein anderes stärker im Einsatz und damit federführend.
Mit unserem Antrag wollen wir jetzt eine Grundlage für eine verbindliche und verpflichtende Kooperation der verschiedenen Leistungsträger schaffen. Eine Arbeitsgruppe aus Fachleuten, begleitet von den beiden zuständigen Ministerien, wird die Schnittstellen zwischen den Sozialgesetzbüchern identifizieren, Vorschläge zur Vernetzung erarbeiten und Regelungslücken ermitteln, damit es nicht mehr vom Wohnort und von Modellprojekten vor Ort abhängt, ob die Kinder der Familie Mayer frühzeitig die nötige Hilfe bekommen. Aufgabe für die nächste Wahlperiode wird es dann sein, auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe ein Rahmenkonzept für die Gestaltung von komplexen, mischfinanzierten Hilfen für Familien mit psychisch kranken Eltern zu entwickeln.
Diese Probleme – das möchte ich noch einmal betonen – sind keine Nischenprobleme. Psychische Erkrankungen sind nicht selten. Mehr als 3 Millionen Kinder sind zumindest vorübergehend betroffen. Für sehr sinnvoll halte ich es deshalb auch, über psychische Erkrankungen mehr und breiter aufzuklären. Zu wenig Wissen über Krankheitsanzeichen und -verläufe auf der einen Seite, Tabus und Scham auf der anderen schaffen ein Klima, das es den Kindern fast unmöglich macht, sich Erziehern oder Lehrern, Freunden oder Nachbarn zu offenbaren. Für Kinder ist es nicht einfach, wenn die geliebten Eltern plötzlich seltsam, komisch oder beängstigend wirken. Noch schlimmer ist es aber, wenn daraus ein Familiengeheimnis gemacht werden soll, wenn weitere Vertrauenspersonen mit Unverständnis reagieren, wenn die Kinder vielleicht wegen ihrer komischen Eltern gemobbt oder gemieden werden.
Hier hilft nur ein dreistufiges Vorgehen, wie im Antrag beschrieben, nämlich erstens allgemein der Stigmatisierung psychisch Erkrankter entgegenzuwirken, zweitens alle Fachleute, die mit Kindern oder Eltern arbeiten, entsprechend fortzubilden und drittens, kindgerechte Materialien für die betroffenen Kinder selbst in die Breite zu tragen. Der Dachverband Gemeindepsychiatrie zum Beispiel hat dazu schon sehr gute Materialien bereitgestellt.
In der Umsetzung des vorliegenden Antrags freue ich mich auf eine engagierte Aufklärungsarbeit und auf die Vorschläge der Arbeitsgruppe zur besseren Kooperation der Hilfesysteme, die wir dann im nächsten Jahr im neuen Bundestag beraten werden.
Ich möchte es nicht versäumen, besonders dem Bundesverband für Erziehungshilfe, AFET, und dem Dachverband Gemeindepsychiatrie für ihre jahrelange beharrliche Begleitung und Lobbyarbeit ganz herzlich zu danken; denn wir alle wissen seit Max Weber: Politik ist das starke und langsame Bohren dicker Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer für Bündnis 90/Die Grünen.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7122968 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 240 |
Tagesordnungspunkt | Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern |