29.06.2017 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 243 / Tagesordnungspunkt 7

Edelgard Bulmahn - Regierungserklärung: Europäischer Rat und G20-Gipfel

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Von Helmut Kohl war heute bereits mehrfach die Rede, ich sage: zu Recht. Denn er ist unbestreitbar eine der prägenden Figuren in der Geschichte unseres Kontinents in den letzten Jahrzehnten. 1992 hat er den Anspruch für seine Partei so formuliert – ich zitiere –:

Für uns ist die Entwicklung Europas nicht irgendein Thema der Tagespolitik. Europa ist für Deutschland eine Schicksalsfrage; ich behaupte: die Schicksalsfrage.

Heute stelle ich fest: Ja, die Union hat sich verändert. Vorbei die Zeiten, in denen Helmut Kohl noch Staatsräson zeigte und seine Politik darauf abzielte, auch die anderen, insbesondere die kleineren Mitgliedstaaten immer mitzunehmen! In welchem Kontrast steht dazu die heutige Realität. Europa ist für Ihre Partei, Frau Merkel, Herr Schäuble und Herr Kauder, nicht mehr eine Schicksalsfrage, sondern ist so manches Mal Gegenstand tagespolitisch motivierter Rechthaberei geworden. Kaum waren wir dem Schreckensszenario Marine Le Pen als französische Präsidentin durch die überzeugende Wahl von Emmanuel Macron entgangen, gab es kleinkarierte Schulmeistereien aus der Unionsfraktion zu seinen Vorschlägen betreffend die Euro-Zone. Schnell wurde aus Unionsreihen erklärt, was nicht geht. Da wurden sogar Vorschläge abgelehnt, die Macron gar nicht gemacht hatte.

(Beifall bei der SPD)

Wie ist es zu diesem Verfall gekommen? Ich befürchte – Frau Merkel ist leider nicht mehr anwesend und kann nicht zuhören; ich bin mir sicher, dass es ihr jemand ausrichten wird –, dass auch Frau Merkel dafür eine Mitverantwortung trägt. Durch ihre Art, Politik zu machen, ist nicht nur ihre Partei europapolitisch entkernt. Das hat auch zu einer Erosion des Vertrauens in die Europäische Union bei der Bevölkerung geführt. Wir Sozialdemokraten wollen dieses Vertrauen wieder stärken. Draußen wird man erkennen, dass heutzutage die Europapartei Deutschlands die SPD ist.

(Beifall bei der SPD)

Frau Merkel hat in den Jahren der Krisen an ihrer allseits bekannten Methode festgehalten, nie klar Stellung zu beziehen. Wenn in nächtlichen Gipfelrunden im Hinterzimmer des Europäischen Rates hektisch Notlösungen gefunden werden mussten, lautete ihre einzige Erklärung an die deutsche Öffentlichkeit oft: Es war alternativlos. – Eine zentrale Führungsaufgabe dagegen ist, getroffene Entscheidungen zu erklären. Sie, Frau Merkel, hätten den Menschen erklären müssen, dass und wie Deutschland von einem politisch stabilen und wirtschaftlich starken Europa abhängt und dass unsere Beiträge zur Krisenbewältigung keine Almosen für vermeintliche Müßiggänger aus Europa sind, sondern Investitionen nicht nur in die Zukunft Griechenlands, sondern auch in die Zukunft unseres Landes.

(Beifall bei der SPD)

Wer argumentativ ein solches Vakuum entstehen lässt, muss sich nicht wundern, wenn Populisten diesen Raum füllen. Das hat Verunsicherung auch bei unseren EU-Partnern geschaffen, insbesondere bei denen, die klein oder weniger leistungsstark sind. Sie fühlen sich im Rat oft nicht mehr mitgenommen. Eine Folge daraus ist, dass Sie, Frau Merkel und Herr Schäuble, mehr und mehr an Rückhalt bei Ihren Kolleginnen und Kollegen in Europa verloren haben. Wäre Helmut Kohl das passiert? Auch wenn wir bei den Wahlen in den Niederlanden, in Frankreich und in Großbritannien erste Abschwächungen gesehen haben, ist die Gefahr des Populismus längst nicht gebannt, auch nicht der Drang einiger Regierungs- oder Parteichefs, sich wieder stärker auf die eigenen Kirchtürme zu fokussieren. Wer Menschen keine positiven Argumente liefert, der muss sich nicht wundern, wenn der Populismus weitere Blüten treibt.

Wir brauchen eine Erneuerung an der Spitze unseres Landes. Es wird Deutschland guttun, bei den EU-Gipfeln demnächst durch den überzeugten und überzeugenden Europäer Martin Schulz vertreten zu sein.

(Beifall bei der SPD – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ach du lieber Gott!)

Ich wünsche mir Martin Schulz auch deshalb als Bundeskanzler, weil mit ihm die institutionelle Balance in der EU wiederhergestellt werden kann. Frau Merkel ist zu sehr den pragmatischen Weg des Aushandelns im Hinterzimmer gegangen. Die Menschen in Europa werden aber ihre Begeisterung für die Europäische Union nur aufrechterhalten oder wiederfinden, wenn wir ihre Sorgen ernst nehmen und ihnen die Dinge erklären. Dies ist Frau Merkel immer weniger gelungen. Die an sich vorgesehenen Entscheidungswege werden umgangen. Die Staats- und Regierungschefs ziehen immer mehr an sich und ziehen sich zunehmend ins Hinterzimmer zurück. Sie entziehen sich damit der unmittelbaren parlamentarischen Beteiligung und Kontrolle. Sie überlasten sich selbst, verlieren sich in Details und untergraben ihre eigene Autorität. Dadurch wird die Zahl der vom Europäischen Rat zwar beschlossenen, aber nicht erreichten Ziele immer höher.

Der Aufbau der EU mit den drei Institutionen Kommission, Ministerrat und Europäisches Parlament und deren Zusammenspiel im Gesetzgebungsprozess ist eben nicht überflüssige und behäbige Bürokratie. Er ist vielmehr eine mit Bedacht entworfene Konstruktion, um mit einer Gemeinschaft von mehr als zwei Dutzend Mitgliedstaaten und mit über 500 Millionen Menschen umzugehen. Dem Demokratiedefizit der Europäischen Union gibt man Nahrung, wenn man weiter Politik im Hinterzimmer betreibt. Das schwächt das Ansehen der EU und ihrer Institutionen nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten europäischen Bevölkerung.

Ich glaube, dass wir wieder auf Helmut Kohl zurückschauen müssen, der zum Beispiel bei der Gründung der Währungsunion bereit war, gegenüber der deutschen Bevölkerung unangenehme Wahrheiten einzuräumen und zu vertreten. Seine Durchsetzungskraft galt nicht nur einseitig deutschen Interessen; er stellte sich immer auch in den Dienst des gemeinsamen europäischen Projekts. Ich glaube, dass Martin Schulz gut für unser Land, gut für die europäische Sache ist, dass er mit seinem großen Respekt, den er sich erworben hat, und mit seiner Art, zusammenzuführen statt Distanzierung zuzulassen, wenn er nach dem 24. September 2017 zum Bundeskanzler gewählt ist, uns und unsere Rolle in Europa deutlich besser vertreten kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das hätte ich eigentlich als Schlusssatz stehen lassen können; aber ich kann nicht umhin – weil Karthago immer noch nicht zerstört ist –, meine Rede abzuschließen, wie ich es schon oft gemacht habe: Unser größtes Augenmerk müssen wir immer noch auf die Bekämpfung der erschreckend hohen Jugendarbeitslosigkeit in einigen Staaten Europas richten. Wir müssen endlich Perspektiven für die jungen Menschen in Europa schaffen; denn wer selbst keine Perspektiven hat, der wird schwerlich Perspektiven für seine zukünftigen Generationen schaffen können.

(Beifall bei der SPD)

Als nächster Redner hat Dr. Michael Fuchs von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7124955
Wahlperiode 18
Sitzung 243
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung: Europäischer Rat und G20-Gipfel
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