29.06.2017 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 243 / Tagesordnungspunkt 11

Susann RüthrichSPD - Bericht des 3. Untersuchungsausschusses (NSU)

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Geflüchteter wird angegriffen und auf dem Polizeirevier gefragt, wie er denn die Angreifer provoziert hätte. Ich unterhalte mich in meinem Bürgerbüro mit einer Mutter, und sie sagt mir: Wissen Sie, Frau Rüthrich, mein Junge studiert jetzt in Wien, und ich bin ganz froh, dass er dort ist, weil ich hier jedes Mal Angst um ihn habe, wenn er mit seiner Afrofrisur draußen herumläuft. – Zwei aktuelle Beispiele für zentrale Fragen: Haben wir aus dem NSU-Desaster genug gelernt? Könnte es uns wieder passieren?

Wie Sie bereits gehört haben, haben wir uns mit sehr unterschiedlichen Blickwinkeln diesen Fragen gewidmet. Ich habe mir folgende Fragen für den Untersuchungsausschuss gestellt:

Erstens. Die Art der Ermittlungen hat die Opfer des NSU nochmals traumatisiert. Ist ausgeschlossen, dass heute noch so ermittelt wird?

Zweitens. Erkennen wir heute die Radikalisierung in unserer Nachbarschaft, wenn Menschen meinen, der Worte seien genug gewechselt, es müssten endlich Taten folgen?

Drittens. Sind wir heute darauf eingestellt, die Netzwerke der Rechtsextremen und deren Strategien zu erkennen? Haben wir die Netzwerke enttarnt und unschädlich gemacht, die den NSU umgeben haben?

Viertens. Stehen diejenigen heute auf stabilen Füßen, die sich der Radikalisierung entgegenstellen, die politische Bildungsarbeit machen, die die Opfer begleiten, die Kommunen beraten, die zivilgesellschaftliches, vielfältiges Leben organisieren, welches ja bekanntermaßen am besten gegen Rechtsextremismus hilft?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich täte nichts lieber, als alle diese Fragen heute mit Ja zu beantworten; doch das ist leider nicht der Fall. Unzweifelhaft ist viel geschehen. Das, was wir an Strukturen ändern mussten, ist weitestgehend umgesetzt. Das allerdings scheint mir, obwohl es viel Anstrengung kostete, die leichtere Aufgabe gewesen zu sein.

Der eingeforderte Mentalitätswandel ist die größere Aufgabe. Sicher, auch die wurde angegangen. Aber ich habe im Ausschuss zu oft gehört, dass in die falsche Richtung ermittelt wurde, jedoch nicht, warum. Warum hat man denn, wenn ein Mord in der Nähe eines Bahnhofs geschah, mit allem Nachdruck und ohne individuelle Anhaltspunkte ins Drogenmilieu ermittelt? Warum war der in der Nachbarschaft liegende Kameradschaftstreff kein Anhaltspunkt für Ermittlungen? Warum? Die Hinterbliebenen haben oft genug gesagt: Wir kennen doch unsere Feinde. Wir denken, es waren Nazis. – Oft habe ich im Ausschuss die Aussage gehört: Na ja, solange wir keine Belege dafür haben, gehen wir nicht davon aus. – Müssen die Opfer den rauchenden Colt liefern, damit in diese Richtung ermittelt wird? Solange hier nicht aktiv gegengesteuert wird, solange entsprechende rassismuskritische Fortbildungen fakultativ bleiben, solange es wenig Auseinandersetzung darüber gibt, inwieweit Vorannahmen dazu führen können, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Aussehens nicht angemessen behandelt werden, so lange muss sich eine Behörde Fragen nach dem Umgang mit institutionellem Rassismus gefallen lassen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Martin Patzelt [CDU/CSU])

Ich weiß sehr wohl, dass wohl niemand in einer Behörde absichtlich und überzeugt rassistisch agieren will – um Gottes willen! –, aber gerade deswegen brauchen wir ein aktives Gegenwirken.

Zum zweiten Punkt, der Radikalisierung. Beim NSU sieht man exemplarisch, wie sich eine Gruppe innerhalb von circa zehn Jahren immer mehr radikalisiert hat. Und heute? In Freital waren es zehn Monate vom Wort zur Tat. Dauert es irgendwann zehn Wochen? Sind wir so weit, diese Radikalisierungsprozesse zu erkennen?

1 000 Angriffe auf Geflüchtete, deren Unterkünfte und Helfer hat das BKA allein im letzten Jahr gezählt, wie auch in dem davor. Zu selten können die Täter dingfest gemacht werden und wenn, dann ist die Überraschung immer groß: Der ist ja in gar keiner Struktur eingebunden, also Einzeltäter. – 1 000 Einzeltäter pro Jahr? Wissen Sie, ein vom Kölner Nagelbombenattentat Betroffener sagte mir: Wir waren damals gemeint, und wir wissen, wir sind auch heute noch gemeint. Wir sollen uns hier in Deutschland nicht sicher fühlen. Und ihr? Ihr benennt es wieder nicht als das, was es ist: Terror. – Der Mann hat recht. Angst und Schrecken unter Bevölkerungsgruppen zu verbreiten, das ist die spezifische Form rechten Terrors unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Mehrheitsgesellschaft, weil wir selbst ja nicht bedroht sind.

Im Ausschuss fragte ich oft: Wie definieren Sie denn Terror? Antwort: Na ja, halt so was wie eine rechte RAF. – Doch so simpel ist es nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Rechter Terror trifft Minderheiten und richtet sich nicht wie die RAF gegen staatliche Repräsentanten. Es braucht auch keine öffentliche Forderung als Bekenntnis. Die Tat ist das Bekenntnis. Die Tat sagt: Wir wollen, dass sich Minderheiten in diesem Land nicht wohlfühlen, dass sie vertrieben werden. – Die Betroffenen wie auch die rechte Szene verstehen das sehr wohl; nur die Mehrheitsgesellschaft versteht es zu oft nicht. Das muss sich ändern.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU])

In den Behörden wie auch auf allen anderen Ebenen muss ein neues Verständnis der tatsächlichen Bedrohung einziehen; denn nicht erst, wenn unsere staatliche Ordnung infrage gestellt wird, wie es Zeuginnen und Zeugen häufig definierten, haben wir es mit Rechtsextremismus zu tun. Jeder Angriff auf einen Menschen ist ein Angriff auf uns alle und unsere Werte; denn Artikel 1 des Grundgesetzes schützt die Würde eines jeden Menschen.

Zu Punkt drei: Wer hat das Kerntrio unterstützt? Wir als SPD-Fraktion gehen davon aus, dass die drei nicht nach Chemnitz und Zwickau gegangen sind, weil da gerade eine günstige Wohnung frei war. Deshalb fragen wir, wie denn, wenigstens nachdem klar war, dass Nazis gemordet haben, in die rechte Szene vor Ort ermittelt wurde. Offenbar gar nicht oder zu wenig! Es wurde nur gegen diejenigen ermittelt, die durch entsprechende Asservate beim Trio selbst aufgefallen sind. In einer konspirativ agierenden Szene ist das zu wenig. Die von uns in Auftrag gegebenen Gutachten zeigen sehr genau, dass es Verbindungen und Kennverhältnisse hinsichtlich der Tatorte gab. Das mag noch kein Beleg für eine Mittäterschaft sein; aber es kann dazu beitragen, die Fragen der Hinterbliebenen zu beantworten: Warum mein Vater, mein Bruder, mein Sohn, meine Tochter?

Zu guter Letzt zur Unterstützung für diejenigen, die das demokratische Netz bilden, das Rassismus und andere Menschenfeindlichkeiten eindämmt. Wir hatten im Koalitionsvertrag und mit den Forderungen aus dem letzten NSU-Untersuchungsausschuss beschlossen, dass es eine eigene gesetzliche Lösung gibt, um die Daueraufgabe „Demokratiebildung gegen Radikalisierung“ dauerhaft abzusichern. Ja, wir haben das Programm „Demokratie leben!“ auf fünf Jahre angelegt und damit auf eine längere Zeit als jedes Programm zuvor. Heute sind über 100 Millionen Euro darin; auch das ist mehr als jemals zuvor. Aber es endet 2018. Ich erwarte, dass dann 2019 endlich das Bundesgesetz kommt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Das erwarten auch die Engagierten von uns, und zwar zu Recht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Ausschuss in großer Einmütigkeit zusammengearbeitet. Ich danke allen Mitgliedern dafür. Ja, wir Demokratinnen und Demokraten stehen zusammen gegen Angriffe von rechts. Wir stehen an der Seite der Opfer und Betroffenen. Wir stehen an der Seite derer, die sich für eine demokratische und menschenfreundliche Gesellschaft einsetzen. Lassen Sie uns das auch in Zukunft tun, und zwar nicht nur in einem Untersuchungsausschuss, sondern alle gemeinsam!

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Sylvia Jörrißen, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7125038
Wahlperiode 18
Sitzung 243
Tagesordnungspunkt Bericht des 3. Untersuchungsausschusses (NSU)
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