Christian FlisekSPD - Aufarbeitung der Verbrechen in der Colonia Dignidad
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Vertreter der Betroffenen! Als ich im November letzten Jahres gemeinsam mit einigen Kolleginnen und Kollegen des Rechtsausschusses das Gelände der Colonia Dignidad besuchte, war es schwer, an diesem Tag aufgrund der zahlreichen Berichte nicht die Fassung zu verlieren. Die Betroffenen, mit denen wir und mit denen ich in Chile und später auch hier in Berlin sprechen konnten, sind gebrochene Seelen. Einige von ihnen sind heute hier.
Für mich ist klar: Die Geschichte der Kolonie, aber insbesondere auch diese persönlichen Lebensgeschichten dürfen nicht vergessen werden. Daher erlaube ich mir, an dieser Stelle zwei kurze Zitate aus Berichten von Rainer und Werner Schmidtke vorzulesen. Ich traf beide Anfang Februar hier in Berlin. Sie wurden in Deutschland geboren und kamen im Kindesalter in die Kolonie.
Rainer Schmidtke berichtet:
Wir Kinder wurden, nachdem wir in der Kolonie angekommen waren, nach Alter und Geschlecht sortiert und in Gruppen aufgeteilt. Alles, was man von zu Hause mitgebracht hatte, wurde einem weggenommen, von der Zahnbürste bis zur gesamten Kleidung. Mutti war nicht mehr da, das heißt, ich wurde ihr weggenommen. Ich erinnere mich, wie ich jahrelang fast täglich vor Angst und Stress in die Hose machte.
Sein Bruder Werner schildert seine Erlebnisse:
Ich habe wie auch meine Brüder das Allerschlimmste erfahren, dem Tod ins Auge gesehen und überlebt. Ich war Sklave einer namenlosen Sondergruppe, die fast zwei Jahrzehnte lang Terror, der Folter und der Willkür einiger Folterknechte ausgeliefert war, und das schon im Kindesalter ab etwa acht Jahren. Bei trocken Brot und Wasser galt es, unter Peitschenhieben Zwangsarbeit zu leisten.
Werner Schmidtke beehrt unsere Debatte heute durch seine persönliche Anwesenheit im Plenum. Ich möchte Sie herzlich begrüßen, Herr Schmidtke.
(Beifall im ganzen Hause)
Dass dieser unglaubliche Missbrauch nicht in Vergessenheit geraten ist, ist in erster Linie den Betroffenen selbst und ihren Angehörigen zu verdanken, den zahlreichen Menschenrechtsanwälten und ‑aktivisten und vielen Organisationen, die seit Jahrzehnten an diesem Thema arbeiten.
Ich bin sehr dankbar, dass der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages damals den Vorschlag der SPD-Arbeitsgruppe aufgegriffen hat, eine Delegationsreise nach Argentinien und Chile zu unternehmen und bei der Gelegenheit auch die Colonia Dignidad zu besuchen. Wir haben als erste Delegation von Bundestagsabgeordneten das Gelände der Kolonie besuchen können, einen Ort, der so eng verwoben ist mit deutscher und chilenischer Geschichte, mit dem Leid und Leben vieler Deutscher und auch unzähliger Chilenen; denn die Kolonie war in den Jahren der Militärdiktatur auch ein Ort, an dem Oppositionelle vom chilenischen Inlandsgeheimdienst auf brutalste Weise gefoltert und ermordet wurden. Das zeigt die Komplexität.
Uns war klar, dass wir ein System wie das der Colonia Dignidad nicht durch einen Besuch durchdringen können. Deswegen freue ich mich sehr, dass wir heute einen überfraktionellen Antrag zur Aufarbeitung der Verbrechen in der Kolonie verabschieden können. In diesem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, die strafrechtlichen Ermittlungen in Deutschland und Chile voranzutreiben, ein Konzept für die gemeinsame Einrichtung einer nach wissenschaftlichen Kriterien gestalteten Begegnungsstätte vorzulegen. Besonders wichtig für die Betroffenen: Wir fordern von der Bundesregierung, ein Konzept für Hilfsleistungen für die Opfer vorzulegen, die heute in schwersten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen leben.
Sehr geehrte Damen und Herren, meine Kolleginnen und Kollegen, dies kann nur der Anfang für weitere Aufarbeitung sein. Lassen Sie uns bitte genau hinschauen, gerade weil die Geschehnisse an einem Ort stattfanden, der so weit von Deutschland entfernt ist. Ich bin aber sicher, dass unseren Worten heute endlich auch Taten folgen werden.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Kollegin Renate Künast hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7125727 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 243 |
Tagesordnungspunkt | Aufarbeitung der Verbrechen in der Colonia Dignidad |