Achim PostSPD - 55 Jahre Élysée-Vertrag
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen aus Frankreich und Deutschland! Ich freue mich, dass wir heute nicht zu einer Feierstunde zusammengekommen sind, sondern vielmehr zu einer Debatte, meinetwegen auch zu einer feierlichen Debatte. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, viele Kolleginnen und Kollegen haben bei deren Vorbereitung geholfen. Einen möchte ich besonders erwähnen, ohne den das, glaube ich, schlecht geklappt hätte: Andreas Jung aus Baden-Württemberg. Er war der Motor dieser ganzen Initiative.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben bisher in den Reden viel über Europa, über die deutsch-französische Zusammenarbeit gehört. Ich will einmal mit einer Geschichte aus der letzten Woche beginnen. Meine jüngere Tochter musste zufällig eine Hausarbeit über die Gründung der Montanunion anfertigen. Sie hat mir alles vorgelesen und erzählt, was die spezifisch deutschen, die spezifisch französischen Interessen waren und dass Robert Schuman ein sehr guter und großer Mann gewesen sei. Ich war ganz stolz. Und als wir fertig waren, hat sie zu mir gesagt: Aber, Papa, eine Frage habe ich noch: Was ist eigentlich ein Erbfeind? – Denn das Wort kam in vielen Texten vor. Sie ist 15 und hatte in ihrem ganzen Leben noch nie davon gehört, was ein Erbfeind ist.
Familien wie die unsere gibt es in Frankreich und in Deutschland viele Millionen. Mein Vater ist 1945 als Achtjähriger aus Ostpreußen vor der Roten Armee geflohen. Mein Großvater erlebte zwei Weltkriege. Der Vater meines Großvaters erlebte den Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871. Und meine Tochter, dieses 15-jährige Mädchen, hört zum ersten Mal davon, was überhaupt ein Erbfeind ist. Ich muss sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir sind weit gekommen, wenn 55 Jahre nach dem Élysée-Vertrag die Jugend von heute nicht mehr weiß, was ein Erbfeind ist.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD)
Da wir alle – fast alle – 55 Jahre später von sogenannten Erbfeinden zu unzertrennlichen Ehepartnern geworden sind, braucht man jetzt frischen Wind, neuen Mut, neue Ideen und neue Ambitionen. Das ist der eigentliche Grund, warum wir uns hier zusammengefunden haben: Wir wollen einen neuen Élysée-Vertrag, mindestens eine Erneuerung dieses Élysée-Vertrags. Ich glaube, die Zeit dafür ist reif.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir müssen dafür drei Dinge gleichzeitig machen – das wird dem einen oder anderen Mann schwerfallen; aber es ist möglich, drei Dinge gleichzeitig zu machen –:
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Erstens. Wir müssen die großen Ambitionen, die in diesem Antrag der vier Fraktionen stehen, ab morgen in die Tat umsetzen. Denn da ist viel drin: von der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und der Zusammenarbeit der Parlamente über die deutsch-französische Wirtschaftsunion bis hin zum Aufbau einer europäischen Säule.
Zweitens. Wir müssen Europa reformieren. Präsident Macron hat sogar davon gesprochen, Europa neu zu gründen. Dafür gibt es aus meiner Sicht, aus der Sicht meiner Fraktion und wahrscheinlich aus der Sicht der Mehrheit dieses Hauses mehrere Leitsätze: Wir brauchen und wollen ein Europa der Demokratie. Denn Europa funktioniert nicht, wenn in Europa Rechtsstaatlichkeit, Grundwerte und Gewaltenteilung wie in einem Supermarktregal liegen, aus dem sich der eine oder andere der jetzt noch 28 Partner mal das eine, mal das andere und mal gar nichts herausnimmt. Das kann nicht funktionieren.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Wir brauchen ein Europa der Investitionen. Jede Investition in Europa ist auch gut für Deutschland und Frankreich. Jede Investition in Europa bringt auch Vorteile für unsere beiden Länder. Deshalb: Lassen Sie uns gemeinsam mehr in Europa investieren. Das ist gut für die Wettbewerbsfähigkeit Europas und gut für die Zukunft Europas.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Natürlich brauchen wir ein Europa der Gerechtigkeit. Wenn in Südeuropa 20, 25, 30, 40 Prozent der Jugendlichen arbeitslos sind, müssen gerade Deutschland und Frankreich der Motor dafür sein, mehr Geld für den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit bereitzustellen. Wir jedenfalls sind dazu bereit.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Alice Weidel [AfD]: Das ist ja wirklich unglaublich! Ein sozialistisches Geschwätz sondergleichen!)
– Ich höre gerade, es sei sozialistisches Geschwätz, wenn man etwas gegen Jugendarbeitslosigkeit tun will.
(Dr. Alice Weidel [AfD]: Geld zum Fenster rauswerfen! Das machen Sie ja jetzt schon!)
Wenn wir schon dabei sind, Herr Gauland: Charles de Gaulle war ein großer Patriot und ein großer Europäer. Bei Ihnen kann ich bisher nach allen abwägenden Prozessen weder das eine noch das andere erkennen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb wollen wir auch zusammen an einem Europa des Friedens und der globalen Verantwortung arbeiten. Wir haben vor einigen Wochen den Anfang mit den ersten Schritten hin zu einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungsunion gemacht. Wir brauchen dies auf der Grundlage von Friedenssicherung, Konfliktprävention und Verhandlungen.
Damit komme ich zum nächsten Punkt, zum dritten, den wir machen müssen – wahrscheinlich der schwierigste –: Wir müssen mutiger werden. Wir müssen in dieser Stunde auch einmal offen über einige Dinge reden.
Ich fange mal aus deutscher Sicht an: Womit wir aufhören müssen, ist die Lebenslüge der deutschen Nettozahlerdebatte: Deutschland als Lastesel Europas. Was für ein grober Unfug!
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Deutschland ist der größte Profiteur der Europäischen Union, politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir wollen Europa weiterentwickeln, nicht nur mit einer Reform der Euro-Zone – die ist dringend notwendig –, sondern auch ganz praktisch, zum Beispiel mit einer Reform der Kommission. Einige Länder in Europa zucken, wenn sie hören, die Deutschen und Franzosen hätten sich vielleicht über die Zahl der Kommissare geeinigt, weil sie sich denken: Deutschland und Frankreich machen sich einen schlanken Fuß, und die kleineren Mitgliedstaaten sollen dann verzichten. – Wenn wir wirklich mit der Verkleinerung der Kommission vorankommen wollen, die ich für richtig halte – genannt wurde zum Beispiel die Zahl von 15 Kommissaren –, dann müssen Deutschland und Frankreich vorangehen,
(Christian Lindner [FDP]: Sehr gut!)
und zwar entweder dadurch, dass wir uns einen Kommissar teilen, oder dadurch, dass wir uns beim Stellen eines Kommissars abwechseln. Erst dann werden die anderen bereit sein, mitzumachen, sonst nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wie gesagt: ein mutiger Vorschlag; wir sollten mal darüber nachdenken.
Das Gleiche gilt für transnationale Listen. Wir reden immer darüber: Transnationale Listen – das könnte ja was Schönes sein bei den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament. Am Schluss sagen wir: Das ist eine ganz tolle Idee, aber das machen wir erst beim nächsten Mal.
Insofern sage ich zum Schluss: Wir alle wollen – ich glaube, die meisten wollen das –, dass meine Tochter Marlene und alle Menschen in Europa, die nicht wissen, was ein Erbfeind ist, ihr Leben selbst in die Hand nehmen und so gestalten können, wie sie es möchten. Ich habe auch keinen Zweifel daran, dass sie das hinbekommen. Dafür brauchen sie politische Rahmenbedingungen und politische Entscheidungen. Ich will, dass diese Entscheidungen in Berlin, in Paris und in Brüssel gefällt werden und nicht in Moskau, in Washington oder in Peking, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Deshalb brauchen wir die deutsch-französische Zusammenarbeit, deshalb brauchen wir eine Vertiefung der Europäischen Union.
Schönen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Nächste Rednerin ist die Vorsitzende der AfD-Fraktion, Dr. Alice Weidel.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7193969 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 9 |
Tagesordnungspunkt | 55 Jahre Élysée-Vertrag |