Christian LindnerFDP - Regierungserklärung zur Tagung der Staats- und Regierungschefs der EU-27
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vorrednerin der AfD hat über vieles gesprochen. Wir haben nicht vergessen, dass vor der Bundestagswahl auf Einladung der AfD der frühere Chef der britischen Europahasser in Berlin zu Gast war.
(Stephan Brandner [AfD]: Besserer Demokrat als Sie!)
Deshalb ist es kein Zufall, dass die Vorrednerin zwar über vieles gesprochen hat, dass sie aber nicht erwähnt hat, dass die deutschen Beiträge zum Haushalt der Europäischen Union unserer Wirtschaft den Zugang zum größten Binnenmarkt der Welt eröffnen.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wer das unterschlägt oder bekämpft, der will unser Land in das gleiche Chaos stürzen wie das Vereinigte Königreich.
Europa steht vor großen Herausforderungen: Flüchtlingskrise, Globalisierung und Digitalisierung, die Konflikte in unserer Nachbarschaft, die Schuldenkrise. All das kann man mit Tatkraft bewältigen. Die wirkliche Gefahr geht von den simplen und falschen Antworten von Nationalismus und Populismus aus.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, Europa steht vor großen Herausforderungen. Das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU sowie die veränderte Weltlage sind der Anlass und die Wahl von Emmanuel Macron in Frankreich ist die Chance, jetzt ein Jahrzehnt der Erneuerung des europäischen Einigungsprojektes zu begründen. Frau Bundeskanzlerin, Frankreich ist dabei zum Taktgeber avanciert. Der französische Präsident unterbreitet klare und konkrete Vorschläge. Sie dienen zum Teil der Interessenlage seines Landes;
(Dr. Alice Weidel [AfD]: Nationalismus!)
wer wollte ihm das verdenken. Deshalb kann ein schlichtes Echo auf die Pariser Ideen nicht die deutsche Haltung widerspiegeln. Es ist nicht bereits Europafreundlichkeit, Anrufe von Herrn Macron entgegenzunehmen.
(Beifall bei der FDP)
Wir haben heute, Frau Bundeskanzlerin, eine klare und konkrete deutsche Position erwartet. Wir haben diese klare und konkrete Position heute nicht gehört – zumindest nicht von Ihnen, sondern höchstens von Frau Nahles.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)
Erstens werden Reformen der europäischen Institutionen diskutiert. Sie haben die Verkleinerung des Europäischen Parlaments zu Recht begrüßt. Wenn die EU mit 450 Millionen Einwohnern nach 2019 ein kleineres Parlament haben wird als die Bundesrepublik Deutschland mit 82 Millionen Einwohnern, dann nimmt das dieses Haus in die Pflicht für eine Parlaments- und Wahlrechtsreform.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der AfD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber Italien, Spanien und Großbritannien dann auch!)
Wir haben, Frau Bundeskanzlerin, aber nichts von Ihnen gehört, wie Sie die Rolle des Europäischen Parlaments aufwerten wollen – beispielsweise dadurch, dass von der Kommission ausgehandelte Freihandelsabkommen zukünftig prioritär auf europäischer Ebene statt in den Mitgliedstaaten parlamentarisch gebilligt werden. Denn: Die wirtschaftliche Existenzfrage der Handelspolitik braucht Handlungsfähigkeit.
(Beifall bei der FDP)
Frau Bundeskanzlerin, zur Verkleinerung der Europäischen Kommission war ein Rotationsmodell vorgesehen. Die Bundesrepublik Deutschland ist in Vorleistung getreten und hat auf einen Kommissar verzichtet. Aber dieses Rotationsmodell ist noch nicht umgesetzt. Der französische Präsident schlägt nun 15 statt 27 Kommissare vor; das geht in die richtige Richtung. Hat die Bundesregierung dazu keine Position? Eine effizientere, auf die Kompetenzen der EU konzentrierte Kommission muss ein deutsches Anliegen sein.
(Beifall bei der FDP – Zuruf der Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Es gibt Einvernehmen, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auszubauen. Dazu hat Deutschland zunächst einmal – wie wir in dieser Woche erneut vor Augen geführt bekommen haben – zu Hause Aufgaben zu erledigen. Die Bundeswehr braucht mehr als warme Worte angesichts der Tatsache, dass sie nach zwölf Jahren einer unionsgeführten Bundesregierung nur noch bedingt einsatzbereit ist.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik kann sich allerdings nicht nur auf die Verteidigungskomponente beziehen, sondern muss die diplomatische Seite miteinbeziehen. Wir wollen deshalb, dass die Rolle der Hohen Vertreterin gestärkt wird. Entscheidungen müssen auch mit qualifizierter Mehrheit möglich sein. Wir dürfen uns durch das Einstimmigkeitsprinzip auf europäischer Ebene nicht länger selbst lähmen.
(Beifall bei der FDP)
Und: Die Europawahl muss aufgewertet werden. Wir wissen, dass die EVP Spitzenkandidaten für die europäischen Parteienfamilien begrüßt. – Sie haben das hier gesagt; das ist auch richtig so. Damit kann die stärkste Fraktion mit vielleicht 30 Prozent aber nicht automatisch die Spitze der Kommission für sich beanspruchen; denn das wäre nicht Ausdruck von Europafreundlichkeit, sondern nur von Machtkalkül.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Von wirklich praktischer Bedeutung indessen wären transnationale Listen. Dazu haben wir nichts gehört. Nur mit transnationalen Listen wird aus 27 nationalen Einzelwahlen eine wirklich europäische Wahl, und darauf sollte die Bundesregierung hinwirken. Es ist nicht zu verstehen, dass ausgerechnet die EVP sich gegen diesen Vorschlag gewandt hat.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir werden deshalb heute dem von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Entschließungsantrag zustimmen.
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erste gute Wort!)
Unverändert hat das Parlament mit Brüssel und Straßburg zwei Sitze. Dieser Wanderzirkus ist teuer, ineffizient und überholt.
(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber populistisch!)
Deshalb sollten Sie mit dem französischen Präsidenten darüber sprechen, Brüssel zum alleinigen Sitz des Parlaments zu machen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD und des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU])
Statt über diese Fragen zu reden, haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, über europaweite Bürgerdialoge gesprochen. Dagegen ist ja gar nichts zu sagen. Aber aus den schon geführten Gesprächen mit den Bürgerinnen und Bürgern wissen wir, dass sie die bereits bekannten Strukturprobleme endlich gelöst sehen wollen.
Frau Merkel, Sie haben zweitens zum Finanzrahmen der EU gesagt, die Debatte über den Haushalt dürfe nicht von der Debatte getrennt werden, welches Europa wir wollen. Wenn man Ihr Wort ernst nimmt, dann muss zuerst über Aufgaben und Ziele gesprochen werden und danach über die dafür benötigten Mittel. Wir Freien Demokraten wollen überall da ein starkes Europa, wo das Zusammenwirken Mehrwert schafft. Das ist in der Migrations-, der Verteidigungs- und in der Entwicklungspolitik zweifelsohne der Fall. Mehr Investitionen in disruptive Technologien und die Förderung von Projekten des privaten Sektors sowie die Forschung begrüßen wir ohnehin. Insbesondere Ihre Aussagen zur Personalverstärkung bei Frontex unterstützen wir. Diesen Worten müssen Taten folgen.
Haushaltskommissar Günther Oettinger hat zur Finanzierung dieser neuen Prioritäten vorsichtige Kürzungen bei der Gemeinsamen Agrarpolitik und bei der Kohäsionspolitik vorgeschlagen. Sie gehen nicht weit genug, aber immerhin. Der Finanzwissenschaftler Friedrich Heinemann hat den Stand der Forschung in einem Beitrag für „Die Welt“ vom 14. Februar mit den Worten zusammengefasst:
… die Kohäsionspolitik steht … im Verdacht, eher die Interessen von Landräten und Bürgermeistern zu befriedigen, als wirklich einen europäischen Mehrwert abzuliefern.
Die Parteien der Großen Koalition haben hingegen bereits vorab erklärt, dass sie zu höheren Beiträgen zum Haushalt der EU bereit seien. Sie bekennen sich zu einer starken Kohäsionspolitik. Damit schwächen Sie die deutsche Verhandlungsposition. Damit stellen Sie das Verfahren auf den Kopf. Damit fallen Sie letztlich Günther Oettinger in den Rücken. Es ist nicht europafreundlich, pauschal mehr Geld ausgeben zu wollen. Es ist europafreundlich, das Geld der Bürgerinnen und Bürger zunächst besser einsetzen zu wollen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Erst wenn die Effizienzreserven im Haushalt der EU gehoben sind, dann kann über die Höhe der Beiträge befunden werden.
(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was machen wir mit dem Brexit?)
Wir wollen höhere deutsche Zahlungen nicht ausschließen, aber pauschal anbieten sollte man sie auch nicht.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Die Aussagen zum Finanzrahmen sind im Grunde exemplarisch dafür, dass es eine Zäsur in der deutschen Europapolitik gibt; Frau Nahles hat das ja auch in aller Klarheit ausgesprochen. Frau Nahles, wenn Deutschland seinen Partnern jetzt auch noch vorschreiben will, wie sie ihren Sozialstaat zu organisieren haben, dann läuten Sie die nächste Phase der Europaskepsis auf diesem Kontinent ein.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Über diese Veränderungen in der Politik, insbesondere hinsichtlich der Wirtschafts- und Währungsunion, hat Frau Merkel nur kurz gesprochen, Frau Nahles länger. Frau Nahles, Sie haben offen ausgesprochen, dass es um den Ausgleich von Unterschieden geht. Dem ist zuzustimmen, wenn es um die Stärkung von Wettbewerbsfähigkeit und um private Investitionen geht. Die Jugendarbeitslosigkeit in Italien hat aber nichts mit der Austeritätspolitik von Merkel oder Schäuble zu tun. Das fällt in die Verantwortung der Berlusconis in Europa, die über Jahrzehnte notwendige Reformen verschleppt haben.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Im Koalitionsvertrag steht sehr deutlich, um was es geht: um einen Investivhaushalt für die Euro-Zone, der unter anderem für Stabilisierung und Konvergenz genutzt werden soll. Das deutsche Wort dafür heißt Finanzausgleich. Mehr noch: Der französische Finanzminister Bruno Le Maire hat in einem Interview mit der „FAZ“ am 14. Februar erklärt, der einst als Rettungsschirm gedachte Stabilitätsmechanismus solle mehr oder weniger in ein Transferinstrument umgebaut werden. Es müsse über Liquiditätshilfen gesprochen werden, die in definierten Fällen bereitgestellt würden, also nicht nur im Falle von Krisen. Der ESM solle unter Unionsrecht gestellt werden, damit er schneller entscheiden kann. – Welche Rolle spielt dann der Bundestag? – Der ESM solle die Letztabsicherung für die Abwicklung nicht lebensfähiger Finanzinstitute übernehmen, mit dem Geld der Steuerzahler.
In der Sache hat der Präsident der Deutschen Bundesbank solche Vorschläge eingeordnet. Er sagt, das wirke auf ihn wie die „Lösung auf der Suche nach einem Problem, zumindest wenn man die bestehenden Regeln und Vorkehrungen in der Wirtschafts- und Währungsunion ernst nimmt“.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Herr Weidmann hat recht. Mit diesen Vorschlägen wird die finanzpolitische Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten ausgehöhlt. Das ist nicht nur rechtlich problematisch, es ist ökonomisch unklar. Le Maire hat in diesem Interview übrigens bekräftigt, er sei in diesen Fragen mit seinen deutschen Gesprächspartnern bereits einig.
(Dr. Marco Buschmann [FDP]: Ach!)
Wir hätten gerne heute von Ihrer Regierung gewusst, Frau Merkel: Mit wem hat er verhandelt? Welche Zusagen hat es gegeben? Wenn solch weitreichende Fragen nicht Gegenstand einer Regierungserklärung sind, welche dann?
(Beifall bei der FDP und der AfD)
Frau Merkel, Sie haben heute eine Regierungserklärung abgegeben, aber aufschlussreicher als das, was Sie gesagt haben, war das, was Sie nicht gesagt haben; denn erklärt hat sich diese Regierung nicht.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Nächster Redner ist der Vorsitzende der Fraktion Die Linke, Dr. Dietmar Bartsch.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7202776 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 14 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zur Tagung der Staats- und Regierungschefs der EU-27 |