Michelle MünteferingSPD - Aktuelle Stunde: Demokratie und Erinnerungskultur angesichts rechtsextremistischer Angriffe
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege von Notz, in der Tat, die Wege in diesem Saal führen uns an den Wänden vorbei, auf denen immer noch die Inschriften derjenigen stehen, die uns alle befreiten.
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Und vergewaltigten! – Widerspruch vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gegenruf des Abg. Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das ist so! Nicht abstreiten! Tausende! Keine Geschichtsklitterung! – Gegenruf Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schämen Sie sich!)
Ich zitiere den ehemaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker: Sie befreiten uns „von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“.
(Jürgen Braun [AfD]: Bitte die Geschichte differenziert sehen, Frau Müntefering!)
Es sind die Spuren des Kampfes um das Reichstagsgebäude im April 1945, die erhalten geblieben sind, darunter die Graffiti sowjetischer Soldaten. Ich habe schon manchen Besucher aus dem Ausland ungläubig staunend davor stehen gesehen.
Man kann auf den Internetseiten des Bundestages nachlesen: Der Architekt Sir Norman Foster, geboren 1935, begann unmittelbar nach der Verhüllung des Reichstags, die alten Gipsfaserplatten der 60er-Jahre abzunehmen, die vor die Wände des historischen Baus gesetzt worden waren. Heute sind die wiederentdeckten kyrillischen Inschriften Teil des demokratischen Alltags in diesem Parlament – weil wir es so wollen,
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
weil dieses Gebäude eine Geschichte hat: eine Geschichte, die einen Teil deutscher Vergangenheit ausmacht, der sich tief in das kollektive Bewusstsein und in unser Gedächtnis eingeprägt hat.
Wir erinnern uns in diesen Tagen an den mutigen Widerstand der Geschwister Scholl. Auch eingedenk ihres Schicksals müssen wir uns Nationalismen und vergifteten Debatten immer wieder neu entgegenstellen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Hätten die Geschwister Scholl auch gemacht!)
An die Adresse der AfD: Sie haben von einem Denkmal der Schande und einer erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad gesprochen. Ich sage: Es gilt, die geistige und die kulturelle Freiheit unseres Landes zu bewahren.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Am besten gelingt das übrigens durch Aufklärung und Bildung der jungen Generation, durch internationalen Austausch, durch die Erfahrung des anderen, durch die Erkenntnis, dass einfache Antworten nicht richtig sind,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
durch mutige junge Menschen, die Haltung zeigen und sich nicht von den rechten Verführern unserer Zeit ködern lassen. Ich wünsche mir, dass die junge Generation in Deutschland unsere Kultur des Erinnerns weiterträgt und dass sie ihren eigenen Umgang damit findet.
Es gibt bestimmte Ereignisse, die einen besonders prägen. Für mich waren das der Besuch in Bergen-Belsen und die Diskussion mit einer Zeitzeugin, die unter schlimmsten Umständen überlebt hatte und dann nach Amerika geflohen war. Sie erzählte uns Neuntklässlern, wie sie Jahre nach dem Ende des Krieges plötzlich die gewalttätige und sadistische Aufseherin des Lagers – mit Pelz bekleidet – beim Shopping in einem Kaufhaus in New York zufällig wiedersah. Mich hat diese Vorstellung als Teenager zutiefst schockiert. Ich habe es nie vergessen. In den letzten Wochen gab es eine Debatte darüber, ob junge Leute, ob Schülerinnen und Schüler Gedenkstätten verpflichtend besuchen sollten. Ich meine, dass das kein Zwang, sondern eine Selbstverständlichkeit sein sollte.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Junge Menschen brauchen dabei aber Unterstützung. Deswegen bin ich froh, dass wir im Koalitionsvertrag gute Festlegungen getroffen haben. Wir legen insbesondere das Programm „Jugend erinnert“ auf, das noch mehr Möglichkeiten eröffnen soll, Gedenkstätten und Workshops zu besuchen, um den Blick für wachsenden Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit zu schärfen. Das ist umso wichtiger, weil die letzten Zeitzeugen gehen. Wir haben im Koalitionsvertrag im Sinne des Erinnerns konkret – das war, ist und bleibt ein Prozess – die Unterstützung dezentraler, kleiner Initiativen, die Stärkung der Gedenkstätten und ihre Weiterentwicklung sowie nicht zuletzt die Aufarbeitung unseres kolonialen Erbes in Zusammenarbeit mit anderen Ländern festgeschrieben. Wir tun das, weil die Kulturarbeit unser Leben und die Demokratie bereichert.
An die Adresse meiner SPD: Das allein ist Grund genug, Ja zu Regierung und Verantwortung zu sagen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vielen Dank, Frau Müntefering. – Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Marc Jongen von der AfD das Wort.
(Beifall bei der AfD)
Herr Kollege, entschuldigen Sie, aber ich werde von der AfD-Fraktion darauf hingewiesen, dass es sich um Ihre erste Rede handelt.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist seine zweite!)
– Wie ich höre, soll es schon die zweite sein. Da müssen Sie in Ihrer Fraktion vielleicht für Aufklärung sorgen.
(Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Schon wieder geirrt!)
Bitte, Herr Jongen.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7203457 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 15 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde: Demokratie und Erinnerungskultur angesichts rechtsextremistischer Angriffe |