Susann RüthrichSPD - Aktuelle Stunde: Demokratie und Erinnerungskultur angesichts rechtsextremistischer Angriffe
Die Debatte zur Extremismusklausel haben wir in der letzten Sitzungswoche geführt. Sie können ja noch einmal nachlesen, was die Argumente dagegen waren.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „ Wir vermissen euch“, das sagte der Pfarrer meiner Heimatstadt bei der Verlegung der Stolpersteine. Jugendliche haben sich mit dem Leben der Ermordeten beschäftigt: Es waren Kinder, es waren alte Leute, es waren Leute in der Mitte des Lebens, es waren Meißner, Sachsen, Deutsche. Die Jugendlichen sehen: Sie waren ein ganz normaler Teil unserer Gesellschaft, bis sie zu „anderen“ gemacht wurden. Deshalb wurde ihnen ihr Leben genommen. Die Enkel und Urenkel dieser Menschen wären heute die Mitschüler unserer Kinder. Sie sind nicht da. Wir vermissen euch!
Meine Kinder sahen die goldenen Steine im Boden und fragten: Was steht denn da? Ich habe es ihnen vorgelesen und erklärt. Danach wollten sie auch die anderen Steine in der Stadt besuchen. „ Penetranter Moralismus“, so nennt das ein Mitglied der AfD. Ist das wirklich nur eine Einzelmeinung? Oder ist das schon Schuldkult, wie wir gerade gehört haben?
Wir brauchen das Erinnern, damit das Ungeheuerliche, das so schleichend begann, nie wieder geschehen kann.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Glücklicherweise gibt es bei uns eine ganz breite Palette des Erinnerns. Die jungen Leute der AG Geschichte vom Treibhaus in Döbeln zum Beispiel tragen die Geschichte des jüdischen Lebens vor und in der Zeit des NS in dieser Region Mittelsachsens zusammen. Mit einer App kann man durch die Stadt gehen und die entsprechenden Orte aufsuchen. In Pirna standen graue Busse als begehbares Kunstwerk, um an die Tötung von Menschen mit Behinderungen auf dem Sonnenstein zu erinnern. Und mit der Aktion Sühnezeichen entsenden wir junge Menschen in die Welt. Ich unterstütze eine dieser Freiwilligen aus Dresden. Sie ist derzeit in Chicago am Illinois Holocaust Museum aktiv. Sie berichtet von der beindruckenden Möglichkeit, sich mit Hologrammen von Überlebenden unterhalten zu können. Das ist ein Weg, um die Erinnerung wachzuhalten, wenn die letzten Überlebenden leider nicht mehr unter uns sein werden.
Wenn ich mit meinen Kindern zur Menschenkette am 13. Februar in Dresden gehe, dann fragen sie: Hier war einmal Krieg? Warum? Kann das wieder passieren? – Wir alle kennen diese großen und kleinen Beispiele des aktiven Erinnerns; denn sie zeigen, dass wir nicht bereit sind, einen Schlussstrich zu ziehen. Unter anderem dieser Beispiele wegen hat unser Land wieder einen guten Ruf in der Welt. Diese Beispiele zeigen, dass wir unsere Geschichte annehmen; denn wir haben keine andere.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Wir können sie nicht ändern, aber unsere Zukunft schon.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Abwehr dieser uns so tief prägenden Erinnerungskultur greift leider um sich. Ich komme aus der Stadt, in der jahrelang der größte rechtsextreme Aufmarsch Europas vermeintlich der Zerstörung der Stadt gedenken wollte. Vom „Bomben-Holocaust“ war zynisch die Rede. Die Stadt wurde als unschuldiges Opfer dargestellt. Das stimmt vielleicht für die getöteten Personen. Das eigene Land, die eigene Stadt aber nur als Opfer darzustellen und zu verdrängen, dass von hier der Vernichtungskrieg und der Holocaust ausgingen, ist das Gegenteil verantwortungsbewusster Erinnerungskultur.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Und wen sehen wir da 2010 auf dem Versammlungsplatz in Dresden? Herrn Höcke, heute AfD. Kommt das vor, dass man ganz aus Versehen in eine Nazidemo gerät und mitbrüllt – als Geschichtslehrer? Bei Ihnen schon. In diesem Jahr meldet ein verurteilter Volksverhetzer und Holocaustleugner eine Demonstration in Dresden an. Und was macht der stellvertretende Vorsitzende der AfD-Landtagsfraktion? Er postet eine Anzeige dieses Holocaustleugners auf seiner Facebook-Seite. Wieso bringen Sie sich selbst mit solchen Leuten in Verbindung, wenn Sie doch angeblich gar nichts mit denen zu tun haben?
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Damit nicht genug. Beim Aschermittwoch der AfD in Sachsen werden unsere Nachbarn und Freunde aufs Übelste rassistisch beleidigt, zu „anderen“ gemacht; wir erinnern uns. Statt einer Entschuldigung höre ich aus dem Mund desjenigen, man solle das doch mit ein bisschen Humor nehmen. Rassismus ist aber niemals witzig.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sprach von den vielen Beispielen im Land, die uns heute daran erinnern, wie es damals begann und wozu es führte. Diejenigen, die heute wieder Nachbarn zu „anderen“ machen, sollten öfter einmal offenen Herzens und Denkens diese Projekte miterleben. Vielleicht würde ihnen dann klar werden, warum die Abwertung anderer Menschen nie normal werden darf.
Wir jedenfalls werden, unter anderem mit dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“, die vielen Aktiven weiter stärken. Wir werden weiter künstlerische, kreative, laute, leise, große und kleine Ansätze der aktiven Erinnerungskultur unterstützen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank, Frau Kollegin Rüthrich. – Als letzter Redner in der heutigen Aktuellen Stunde rufe ich Herrn Professor Patrick Sensburg auf.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Pascal Kober [FDP])
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7203479 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 15 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde: Demokratie und Erinnerungskultur angesichts rechtsextremistischer Angriffe |