Lothar BindingSPD - Steuermehrbelastung durch kalte Progression
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Parlamentspräsident, der die erste Rede zu diesem Tagesordnungspunkt hat anhören müssen, Dr. Schäuble, hat mir ein bisschen leidgetan; denn ihm wurde vorgeworfen, er habe die letzten Jahre nichts getan, es sei nichts passiert usw.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das war ja auch üble Nachrede!)
Ich habe seine Gesichtszüge gesehen, und was ich gesehen habe, hat mich nicht gewundert. Es war völlig klar. Man kann ihm bestimmt viel vorwerfen, aber dass er nicht auf die kalte Progression geachtet hätte, das kann man ihm nicht vorwerfen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Heiterkeit bei der FDP)
Übrigens: Nicht alles, was die AfD nicht sieht, nicht alles, was die AfD nicht versteht, und nicht alles, was sie nicht gelesen hat, verdreht oder leugnet, ist geheim. Gesetze zum Beispiel kann man lesen. Man kann zu deren Auslegung und Anwendung lesen. Wer ein bisschen hinschaut, sieht alles. Noch einfacher: Tarifanpassungen stehen in der Zeitung. Wer gelegentlich Zeitung liest und nicht nur irgendwelche Fake-Meldungen twittert, weiß genau, was passiert ist.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen des Abg. Jürgen Braun [AfD])
Kalte Progression ist ja schon ein paarmal definiert worden. Ich will es auf meine Weise versuchen zu erläutern. Einmal angenommen, jemand verdient so viel in diesem Jahr.
(Der Redner zeigt auf seinen Zollstock – Heiterkeit bei Abgeordneten der AfD)
Dann gibt es Lohnverhandlungen. Die Lohnverhandlungen sind ziemlich erfolgreich und führen dazu, dass jemand so viel mehr verdient. Er freut sich, dass er so viel mehr verdient, und wir freuen uns, dass dadurch der Steuersatz steigt. Er muss prozentual mehr Steuern zahlen. Die Leistungsfähigkeit ist ja erheblich gestiegen. Jetzt kommt die Inflation und nimmt die Kaufkraft dieser Lohnerhöhung wieder weg. Jetzt passiert etwas ganz Dummes: Er muss den Nominallohn versteuern, hat aber nur reale Kaufkraft. Dieser Unterschied macht die Ungerechtigkeit aus; das wurde übrigens in der ersten Rede korrekt erklärt.
(Jürgen Braun [AfD]: Wir verstehen das auch ohne Zollstock, Herr Binding!)
Im Antrag wird aber aus einem Gutachten von Herrn Fuest zitiert, der kalte Progression anders definiert. Diese unterschiedliche Definition findet in diesem Antrag überhaupt keinen Niederschlag. Da sieht man, wie kleinkariert, engstirnig und falsch angelegt dieser gesamte Antrag ist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die kalte Progression entsteht durch zwei Bedingungen. Erstens durch eine, die wir wollen, nämlich Progression. Starke Schultern tragen mehr; wer viel verdient, soll einen höheren Steuersatz zahlen. Nicht nur mehr Euros: Wenn alle 10 Prozent zahlen würden, müssten Reiche auch mehr zahlen. Nein, wir sagen: Nicht nur mehr Euros, sondern auch mehr Prozente. Die zweite Bedingung ist Inflation. Gibt es keine Inflation, gibt es auch keine kalte Progression. Progression gibt es gleichwohl. Wer also von Abschaffung der kalten Progression spricht, muss sagen, er will per Gesetz die Inflation abschaffen.
(Markus Herbrand [FDP]: Na ja!)
Was man abschaffen kann, ist die Wirkung der kalten Progression. Kommt es zu Inflation, haben wir sie. Ich kann die Wirkung dann kompensieren, aber ich kann die kalte Progression nicht abschaffen. Wer diesen Denkfehler genauer verstehen will, liest den Gesetzentwurf des Bundes der Steuerzahler. Dieser verrät sich schon im ersten Satz und zeigt, dass er zwischen kalter Progression und Progression nicht seriös unterscheidet.
(Beifall bei der SPD)
Abschaffen können wir die kalte Progression also nicht, ihre Wirkung können wir aber kompensieren.
In Ihrem Antrag schreiben Sie verschwurbelt verschiedene Dinge. Wir sollen die kalte Progression reflektieren. Das zeigt, wie sehr dieser Antrag an der Wirklichkeit vorbeigeht. Schöner kann man sich eigentlich nicht blamieren; denn das passiert schon lange. Ich finde, man kann die FDP, die CSU und auch einige Kollegen der CDU gar nicht schlimmer behandeln; denn sie haben sich seit Jahren – ich möchte sogar sagen: seit Jahrzehnten – immer darum gekümmert, dass das Thema „kalte Progression“ hier auf der Tagesordnung steht. Das wurde schon damals überflüssigerweise immer wieder zum Thema gemacht; denn seit 1991 – das zeigt eine Langfristbetrachtung – hat die kalte Progression gar keine Wirkung gehabt, weil sie immer kompensiert wurde.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das kann man nachlesen. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung weist das schön nach und zeigt auch, wie wir das gemacht haben: Anpassung der Eckwerte und der Tarife, sogar drastische Senkung der Steuertarife unter Rot-Grün. Wir haben viele wunderbare Dinge gemacht. Jedenfalls war die Kompensation der Wirkung der kalten Progression immer gesichert.
In Ihrem Antrag steht auch noch:
Erstaunlicherweise wurde … dieser Effekt der Auszehrung der … Netto-Einkommen … nicht von den politischen Akteuren thematisiert …
Da muss sich doch bei den Kollegen der FDP und CDU/CSU der Magen herumdrehen, wenn sie das lesen; denn es wurde – ich weiß nicht, wie oft –bewiesen, dass man hier mit Fake News, mit falschen Informationen, eigentlich mit einer hinterhältigen Diktion unterwegs ist. Ich muss sagen, dass es mich total irritiert, dass man noch nicht einmal das aktuellste Papier, den Koalitionsvertrag, entsprechend würdigt; denn selbst dort ist das Thema – wie ich finde, überflüssigerweise – wieder enthalten. Es sichert wenigstens die gemeinsame Position ab.
Herr Kollege Binding, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Ich denke, das brauche ich nicht zu machen. Die Zwischenfragen haben andere Funktionen, als hier aufzuklären. Deshalb fahre ich jetzt fort.
Ich muss Sie trotzdem fragen.
(Jürgen Braun [AfD]: Sie klären aber auf! Sie sind der größte Aufklärer, Herr Binding!)
Wir wollen alle zwei Jahre die Wirkung der kalten Progression definieren. Es gibt einen Steuerprogressionsbericht. Diesen werden wir beherzigen. Wer sich das noch einmal genauer anschaut – ich kann es nur bis in das Jahr 1998 zurück beurteilen –, stellt fest, dass die Wirkung der kalten Progression übrigens nicht nur kompensiert, sondern sogar überkompensiert wurde.
Jetzt müssten wir ein bisschen rechnen. Das ist vielleicht zu viel für die letzten 27 Sekunden Redezeit. Wer es aber genauer nachrechnen will, der kommt sehr schnell zu dem Ergebnis, dass die kalte Progression für uns im Grunde bedeutungslos ist. Genauso verhält es sich mit diesem Antrag. Deshalb halten wir an den bewährten Methoden fest.
Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen. Vorhin fiel das Stichwort „Steuermehreinnahmen infolge der kalten Progression“. Ich habe schon gezeigt, dass das Quatsch ist. Ich will aber daran erinnern und Sie fragen: Hatten wir einen Beschäftigungsaufwuchs? Gab es schon einmal 44 Millionen Beschäftigte? Haben wir Lohnzuwächse gehabt? Könnte es sein, dass die Einkommensteuermehreinnahmen auch auf solche Effekte zurückgehen?
Herr Kollege Binding, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mehr möchte ich gar nicht sagen. Jeder hat gemerkt, worauf das hinausläuft. Ich glaube, es ist alles gesagt.
Schönen Dank und einen schönen Nachmittag.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vielen Dank, Herr Kollege Binding. Das haben Sie jetzt davon. Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Abgeordneten Dürr.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7221611 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 29 |
Tagesordnungspunkt | Steuermehrbelastung durch kalte Progression |