Verena Bentele - Änderung des Schwerbehindertenausweises
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete in diesem Parlament! Kommen wir zurück zum Thema. „ Inklusion bewegt!“. Das war das Motto meiner Amtszeit als Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Übrigens bin ich die erste Beauftragte der Bundesregierung, die selbst eine Behinderung hat.
Die Definition, meine sehr geehrten Damen und Herren, des Begriffs „Inklusion“, das bewegt viele Menschen. Viele Menschen in Deutschland, ob mit oder ohne Behinderung, füllen den Begriff „Inklusion“ mit Leben, stecken ihre Kreativität, ihre Ideen und ihre Energie in diesen Begriff. Und so hat auch das heute 15-jährige Mädchen – so sage ich das am heutigen Girls’ Day einmal; die junge Frau, müsste man eigentlich sagen – mit Downsyndrom aus Schleswig-Holstein das Thema Inklusion auf ihre Art und Weise mit Leben gefüllt und eine Debatte angestoßen, die uns schon länger bewegt, nämlich die Debatte über die Umbenennung des sogenannten Schwerbehindertenausweises in „Voll-normal-Ausweis“ oder, wie wir hier heute sagen, „Teilhabeausweis“. Auch ich habe einen solchen Ausweis, und dieser Ausweis regelt in meinem Fall als Mensch, der beispielsweise blind ist mit dem Merkzeichen „B“, dass ich das Recht habe, eine Begleitperson mitzunehmen als ein Ausgleich eines Nachteils.
Über die Umbenennung des Ausweises zu diskutieren, ist gut. Vor allem ist es gut, das mit Menschen mit Behinderungen zu tun. Das ist das einzig Richtige und der heutigen Politik in Deutschland und einer modernen Sozialpolitik angemessen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD)
Menschen mit Behinderungen von Anfang an einzubeziehen, wenn es darum geht, wie wir Inklusion leben wollen und was wir in den Vordergrund stellen wollen, ist wichtig. Wir wollen nämlich nicht das Defizit, das, was Menschen nicht können, in den Vordergrund stellen. Wir wollen nicht zum Ausdruck bringen, dass wir Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft nicht haben wollen, dass sie in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Darüber dürfen wir heute nicht diskutieren. Wir müssen heute darüber diskutieren, was wir tun können, um Chancengleichheit für alle Menschen in diesem Land herzustellen, egal ob mit oder ohne Behinderung, egal woher sie kommen, egal aus welchem Land sie kommen, egal welches Geschlecht sie haben, egal ob sie alt oder jung sind.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD)
Eine auf Menschenrechten basierende Sozialpolitik in Deutschland, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete, bedeutet natürlich auch einen Paradigmenwechsel. Dieser zeigt sich auch in der Umbenennung eines Dokuments von „Schwerbehindertenausweis“ in „Teilhabeausweis“. Damit muss aber eine Diskussion darüber einhergehen, welche Nachteilsausgleiche mit diesem Ausweis verbunden sind. Dass diese Debatte in diesem Haus auch weiterhin geführt wird, das ist mein Wunsch für diese Legislaturperiode.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD)
Teilhabe heißt nämlich viel. Teilhabe heißt beispielsweise auch, dass eine Gesellschaft gewillt ist und alles daransetzt, Barrieren zu überwinden. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu zum Beispiel:
Wir stärken die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen: Investitionen in Ausbau von Barrierefreiheit im öffentlichen Raum ...
Das ist richtig und wichtig.
Deswegen wünsche ich mir, die Investitionen in den Abbau von Barrieren, meine sehr geehrten Damen und Herren, mögen alle Lebensbereiche umfassen; denn Barrieren haben wir in unserer Gesellschaft viele. Wenn Sie denken, wir leben bereits in einer Gesellschaft ohne Barrieren, dann kann ich Ihnen nur sagen: Da sind wir noch nicht. Wir haben Barrieren in unseren Straßen und in Häusern. Wir haben immer noch Barrieren in Behörden, und wir haben beispielsweise auch Barrieren, meine sehr geehrten Damen und Herren, in Wahllokalen, an wichtigen Orten der Demokratie. Um die Beseitigung genau dieser Barrieren muss es einem demokratischen Parlament wie diesem hier gehen, um die Teilhabe zu stärken und von Anfang an die Menschen, um die es geht, hier mit einzubeziehen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der AfD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
In dieser Wahlperiode gibt es viele Vorhaben der Parteien der Großen Koalition zur Stärkung der Teilhabe. So soll beispielsweise geprüft werden, inwieweit auch private Anbieter für Dienstleistungen, die der Allgemeinheit zugutekommen, angemessene Vorkehrungen zur Herstellung von Barrierefreiheit umsetzen können. Ja, meine sehr geehrten Damen und Herren, prüfen Sie. Ändern Sie dann aber auch! Denn das Leben von Menschen mit Behinderungen findet in unserem Alltag, in unserer Mitte und überall statt. Wenn ich beispielsweise im Kino sitze und mir meine Freunde neben Ihnen laut und deutlich erklären, was auf der Leinwand passiert, glaube ich, es wäre für Sie nicht so schön, wenn mir ein Freund ins Ohr schreit: Da knutschen gerade zwei.
(Heiterkeit)
Ich glaube, Sie fänden es schöner, wenn es für mich eine Bildbeschreibung gibt und diese Bildbeschreibung mir per Kopfhörer leise ins Ohr gesprochen wird. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist Barrierefreiheit.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der AfD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Barrierefreiheit heißt aber auch, dass Kinder und Jugendliche von Anfang an gemeinsam lernen, dass Kinder und Jugendliche gemeinsam in die Schule gehen, in der Frühbetreuung sind, Ausbildungen machen, an Hochschulen lernen und studieren. Das heißt Inklusion. Dieses demokratische System von Anfang an in den Köpfen junger Menschen zu verankern, auch das ist ein wesentliches und wichtiges Thema, das sich die Koalitionäre auch für diese Legislaturperiode vorgenommen haben.
Bildung zu stärken durch Investitionen in inklusive Bildung und durch die Einbeziehung von mir bzw. meines Nachfolgers und der Landesbeauftragtenkollegen, darum geht es doch. Es geht darum, dass wir von Anfang an in den Köpfen aller Menschen verankern, dass Behinderungen und Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen zu unserer Gesellschaft gehören, genau wie große und kleine und alte und junge Menschen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD)
Heute, am Girls’ and Boys’ Day, geht es aber auch darum, sich über das Thema Arbeit Gedanken zu machen. Heute schauen viele junge Mädchen und junge Männer in Betriebe hinein, lernen Berufszweige kennen und werden so die Möglichkeit bekommen, neue Felder für ihre berufliche Zukunft kennenzulernen. Es ist immer noch so, dass die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen deutlich höher ist als die der Menschen ohne Behinderungen und dass die Dauer ihrer Arbeitslosigkeit deutlich höher ist als die der Menschen ohne Behinderungen. Um hier Abhilfe zu schaffen, ist es in dieser Legislatur dringend nötig, dass die Vermittlung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Behinderungen durch die Bundesagentur für Arbeit verbessert wird. Auch für dieses Vorhaben wünsche ich der Großen Koalition viel Erfolg. Ich hoffe, dass wir so mehr Betriebe davon überzeugen können, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen. Denn ein Viertel der Betriebe in Deutschland beschäftigt immer noch keine Menschen mit Behinderungen. Das kann so nicht bleiben.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD)
Barrierefreiheit und Teilhabe heißen aber auch, alle Menschen an den wesentlichsten demokratischen Prozessen teilhaben zu lassen. Inklusion ist Demokratie, und Demokratie heißt Inklusion und Einbeziehung aller. Deswegen bitte ich Sie als Parlament heute eindringlich: Schaffen Sie endlich die Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit rechtlicher Betreuung in allen Angelegenheiten ab!
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sehr richtig!)
Es ist wichtig und richtig, dass sich alle Menschen im demokratischen Prozess einbringen können. Egal ob sie eine Behinderung haben oder nicht, egal ob sie die Gebärdensprache oder die Leichte Sprache brauchen, egal ob sie die Brailleschrift benötigen, egal welche Behinderung sie haben: Alle Menschen haben das Recht und müssen die Möglichkeit haben, sich im demokratischen Prozess einzubringen, ihre Meinung zu äußern und Demokratie mitzugestalten.
Deswegen frage ich auch Sie: Wie viele Menschen mit Behinderungen, wie viele Menschen, die unterschiedliche Teile der vielfältigen Gesellschaft repräsentieren, sind in Ihren Parteien aktiv und tätig? Haben Sie beispielsweise Menschen, die nichts sehen, die Mobilitätseinschränkungen oder Hörbehinderungen haben, in Ihren Reihen? Ich finde, es ist auch eine Verpflichtung politischer Parteien, Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zur Mitarbeit zu geben, ihnen also die Möglichkeit zu geben, sich einzubringen und genau hier, an diesem Rednerpult, zu stehen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD und der FDP)
Das ist für mich auch ein Ausdruck von Demokratie.
Ich wiederhole mich: Inklusion ist Demokratie, und Demokratie heißt, dass alle Menschen die gleichen Chancen, die gleichen Möglichkeiten und vor allem die gleichen Rechte in unserem Land haben. Diese sind nicht verhandelbar.
Danke schön.
(Anhaltender Beifall im ganzen Hause)
Vielen herzlichen Dank, Verena Bentele. – Ich möchte Ihnen – Sie hören es am Applaus – im Namen von vielen Kolleginnen und Kollegen hier im Haus und auch im Namen von vielen Menschen und vielen Familien in unserem Land für Ihr politisches Engagement und für Ihren leidenschaftlichen Einsatz für echte Inklusion, für Teilhabegerechtigkeit und für unseren moralischen Imperativ, den Artikel 1 des Grundgesetzes – die Menschenwürde –, von Herzen danken. Sie sind die allerbeste Botschafterin für die Würde des Menschen, und zwar für die Würde jedes Menschen. Vielen herzlichen Dank, Frau Bentele, für Ihre Arbeit in den letzten Jahren und natürlich alles, alles Gute für Ihre Zukunft.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD)
Nächster Redner in der Debatte: Sören Pellmann für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7221988 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 29 |
Tagesordnungspunkt | Änderung des Schwerbehindertenausweises |