Hubertus Heil - Aktuelle Stunde zur Arbeitsmarktlage
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tatsächlich war die Lage am Arbeitsmarkt im vereinten Deutschland noch nie so gut wie heute. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland hat mit 32,7 Millionen einen weiteren Höchststand erreicht. Was besonders erfreulich ist: Wir haben es innerhalb weniger Jahre geschafft, die Arbeitslosigkeit in Deutschland nahezu zu halbieren. Sie liegt bei 5,1 Prozent, das ist der zweitniedrigste Wert in der Europäischen Union.
Diese ausgezeichnete Bilanz ist das Ergebnis einer guten wirtschaftlichen Entwicklung und einer guten konjunkturellen Lage, aber auch von vernünftigen politischen Rahmenbedingungen und einer starken sozialen Marktwirtschaft. Anders gesagt: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutschland, aber auch unser Sozialstaat und unser Gemeinwesen, unser Land können auf dieses Ergebnis richtig stolz sein.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Das sind ja Plattitüden!)
Die Lage ist also gut, aber der Erfolg kommt noch nicht bei allen Menschen an. Das sehen wir vor allen Dingen an der Tatsache, dass wir bei aller erfreulichen Entwicklung, die Sie auch einmal zur Kenntnis nehmen könnten, feststellen müssen, dass wir zwar die Massenarbeitslosigkeit überwunden, aber die Langzeitarbeitslosigkeit noch nicht im Griff haben. Es gibt nach wie vor viel zu viele Menschen in diesem Land, die sehr lange aus dem Arbeitsmarkt draußen sind. Auch hier hat sich einiges getan, aber richtig ist: Wir haben einen verfestigten Sockel von Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland. Nachdem wir die Massenarbeitslosigkeit, die in den 90er-Jahren gerade in Ostdeutschland ein großes Thema war, überwunden haben, müssen wir die Chance ergreifen und den verfestigten Sockel von Langzeitarbeitslosigkeit aufbrechen.
Die Menschen, die ich meine, habe ich in der letzten Woche getroffen, als ich ein Beschäftigungsprojekt in Hennigsdorf besucht habe. Dort habe ich Menschen kennengelernt, die viele Jahre draußen waren, die begleitende Hilfen und Unterstützung brauchen. Sie brauchen keine kurzatmigen Maßnahmen, sondern dauerhafte Brücken in sozialversicherungspflichtige, sinnvolle Arbeit. Ich sage Ihnen: Für diese Menschen ist Arbeit mehr als Broterwerb. Arbeit ermöglicht die Teilnahme am gesellschaftlichen und sozialen Leben in Deutschland. Deshalb ist der soziale Arbeitsmarkt, den diese Bundesregierung mit den entsprechenden Maßnahmen stärken wird, die richtige Antwort. Wir wollen sozialversicherungspflichtige Arbeit für diese Menschen, damit sie im Leben eine Chance haben. Wir schreiben sie nicht ab. Das ist ein wichtiges Signal, das wir geben.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Die Situation ist – das ist in dieser Woche Teil der Beratungen im Haushaltsausschuss, aber auch Teil der Beratungen im Ausschuss für Arbeit und Soziales –, dass derzeit konjunkturbedingte Arbeitslosigkeit aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage nicht das Problem der Bundesrepublik Deutschland ist. Gleichwohl müssen wir uns angesichts vieler Risiken, die es weltwirtschaftlich gibt, auch für schwierige konjunkturelle Zeiten immer so wappnen, dass wir bei einem Einbruch der Wirtschaftsleistung, der im Moment nicht zu erwarten ist, im Zweifelsfall mit Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik reagieren können, damit aus einem wirtschaftlichen Einbruch kein Tsunami am deutschen Arbeitsmarkt wird.
Wir erinnern uns alle an die Zeit 2008/2009, als wir in Deutschland nach der Krise von Lehman Brothers, nach der Weltwirtschafts- und Finanzkrise einen Einbruch der wirtschaftlichen Leistung von minus 5 Prozent zu verzeichnen hatten. Gleichwohl gab es keinen Tsunami am Arbeitsmarkt. Das ist auch das Verdienst einer klugen und vorsorgenden Arbeitsmarktpolitik gewesen, die mein Amtsvorgänger Olaf Scholz damals zum Beispiel mit den veränderten Regeln zur Kurzarbeit auf den Weg gebracht hat.
(Beifall bei der SPD)
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung sagen wir: Es ist sinnvoll, dass die Bundesagentur für Arbeit bei guter Kassenlage, die zurzeit zweifelsohne vorhanden ist, Rücklagen bildet, die notwendig sind, um für solche Eventualfälle gerüstet zu sein. Wenn beispielsweise die Handelspolitik der Vereinigten Staaten von Amerika, wenn internationale sicherheitspolitische Krisen oder wenn das Verhalten einzelner Mitgliedstaaten der Europäischen Union uns wirtschaftlichen Schaden zufügen, dann müssen wir auch in diesem guten und reichen Land gewappnet sein, um mit Mitteln der Arbeitsmarktpolitik Beschäftigung zu sichern. Deshalb hat die Bundesagentur für Arbeit Krisenrücklagen. Ende dieses Jahres werden sie über 20 Milliarden Euro betragen, was richtig und vernünftig ist. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat ermittelt, dass wir ungefähr 0,65 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt als Krisenrücklage brauchen, um wirtschaftliche Krisenzeiten unbeschadet überstehen zu können – mit diesen Mitteln, die ich beschrieben habe.
Wenn wir jetzt gleichzeitig Spielraum haben, um die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu senken – im Koalitionsvertrag ist eine Senkung um 0,3 Prozentpunkte vereinbart –, dann ist das ein Grund zur Freude. Das entspricht einer Entlastung um insgesamt 3,5 Milliarden Euro für Beschäftigte und Arbeitgeber in diesem Land. Wir werden das gemeinsam umsetzen.
Nun wissen wir alle, dass es den Wunsch nach mehr gibt; wir haben auch in diesem Haus darüber debattiert. Ich sage: Darüber kann und sollte man reden. Im Koalitionsvertrag steht aber eine Senkung um 0,3 Prozentpunkte. Das gilt erst mal, weil wir eine weitere Aufgabe vor der Nase haben, die wir nicht unterschätzen dürfen: Wir haben nicht nur die Aufgabe, Langzeitarbeitslosen zu helfen und für Krisenaufgaben gewappnet zu sein, sondern wir müssen – dazu wurde die Arbeitslosenversicherung von Sozialpartnern und vom Gesetzgeber beauftragt – auch Beschäftigten Versicherungsschutz bieten. Es geht um Schutz und Chancen im Wandel. Es geht vor allem um Schutz und Chancen im technologischen und digitalen Wandel unserer Arbeitsgesellschaft.
Wenn das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und die OECD uns ins Stammbuch schreiben, dass wir uns nicht ausruhen dürfen, dass der technologische Wandel eine Riesenchance ist, er aber auch dazu führt, dass sich die Arbeitswelt verändert, dann müssen wir uns um diese Frage kümmern. Die gute Nachricht ist: Nach allem, was wir wissen, nach allen plausiblen Studien, die wir haben, wird der Bundesrepublik Deutschland bis 2030 und darüber hinaus auch im Angesicht des rasanten, aber erfreulichen technologischen Wandels durch die Digitalisierung die Arbeit nicht ausgehen. Aber – und das ist die anstrengende Nachricht – es wird in vielerlei Hinsicht andere Arbeit sein.
Wenn das, was die OECD geschrieben hat, stimmt, dann wird jeder vierte Arbeitnehmer, jede vierte Arbeitnehmerin in Deutschland mit dem Thema Automatisierung zu tun haben. Wenn richtig ist, was das IAB ermittelt hat, dann werden sich viele Tätigkeitsfelder in den Berufen und damit auch Berufsbilder verändern. Wenn man dann in Rechnung stellt, dass die meisten Menschen, die 2030 dem Arbeitsmarkt in Deutschland zur Verfügung stehen, ihre Ausbildung schon jetzt hinter sich haben, dann ist klar, dass wir diese Menschen in den Bereichen Schule, Berufsschule und Hochschule, also im Bereich der Erstausbildung, nicht erreichen. Das zeigt, dass wir auf Qualifizierung und Weiterbildung setzen müssen.
Deshalb verbinde ich mit dieser Debatte und dem Gesetzentwurf, den ich zur Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages auf den Weg bringen werde, zwei konkrete Vorschläge:
Ein Vorschlag ist, den Schutz für Kurzzeitbeschäftigte in den Blick zu nehmen. Wir haben aufgrund des technologischen Fortschritts immer mehr Menschen, die kurzzeitig beschäftigt sind, zum Beispiel in IT-Projekten. Während dieser Beschäftigungszeit zahlen sie in die Arbeitslosenversicherung ein, aufgrund ihrer sehr kurzen Anwartschaftszeiten und der begrenzten Rahmenfrist können sie aber oftmals keine Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten. Unser Vorschlag ist, die Anwartschaftszeiten von zwölf auf zehn Monate zu verkürzen und die Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre zu erhöhen. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit, aber auch eine Frage der Vernunft, um Schutz im Wandel zu schaffen. Es geht nicht um Schutz vor dem Wandel, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD)
Mein zweiter Vorschlag: Wir müssen das Thema Qualifizierung auf den Weg bringen. Ja, ordnungspolitisch gesehen ist es in allererster Linie Aufgabe der Unternehmen in Deutschland, für Weiterbildung und Qualifizierung zu sorgen, weil das im Interesse des wirtschaftlichen Erfolgs des Unternehmens ist. Und es ist Aufgabe der Beschäftigten, sich selbst um Weiterbildung und Qualifizierung zu kümmern. Wir wollen Unternehmen und Beschäftigte dabei unterstützen. Gerade kleine und mittlere Unternehmen brauchen Unterstützung. Auch die Beschäftigten in kleinen und mittleren Unternehmen sowie die Beschäftigten in großen Unternehmen, die zum Teil gar nicht gering, sondern sehr gut qualifiziert sind, werden Weiterbildung und Qualifizierung brauchen.
Es geht um Schutz und Chancen im Wandel. Es geht um Beschäftigungsfähigkeit, auch um die Möglichkeit, beruflich aufzusteigen. Deshalb ist es richtig, dass wir das Programm WeGebAU, das bisher auf Geringqualifizierte und Ältere ausgerichtet ist, so weiterentwickeln, dass auch Menschen, die eine gute Qualifikation haben – aufgrund einer beruflichen Ausbildung, aber auch aufgrund einer akademischen Ausbildung –, den Anschluss an die neuen Technologien nicht verlieren.
(Beifall bei der SPD)
Trends wie künstliche Intelligenz und Blockchain, die große Themen sein werden, sehe ich als Chance für eine Humanisierung der Arbeitswelt, für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und in allererster Linie für die Beschäftigten. Aber wir müssen aufpassen, dass sie keine Angst-und-Sorgen-Themen werden. Deshalb setzen wir auf Schutz und Chancen im Wandel. Das heißt, dass wir auf eine präventive, eine vorsorgende Arbeitsmarktpolitik setzen, damit wir das Ziel der Vollbeschäftigung in Deutschland in guter Arbeit erreichen können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Uwe Witt.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7243103 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 35 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde zur Arbeitsmarktlage |