13.06.2018 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 38 / Zusatzpunkt 1

Dagmar SchmidtSPD - Aktuelle Stunde: Familienförderung ernst nehmen - Kinderarmut bekämpfen

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der amerikanische Philosoph John Rawls machte ein Gedankenspiel, das er den „Schleier des Nichtwissens“ nannte. Er fragte: Was würde man für gerecht halten, wenn man nicht wüsste, welchen sozialen Status man hat, wenn man nicht wüsste, welches Geschlecht, welche Nationalität, welche Herkunft, welches Aussehen, welche Intelligenz, welche Talente, welche Einschränkungen, welchen Charakter und was für Eigenschaften man hat? Wenn man das alles nicht wüsste: Was wären dann faire Regeln für das Zusammenleben? Was wäre dann gerecht?

Ich glaube, die wenigsten würden hinter dem Schleier des Nichtwissens auf die Idee kommen, dass es gerecht ist, wenn die Herkunft und nicht Fleiß und Talent, Charakter und soziales Verhalten über die Chancen und Möglichkeiten entscheidet, wenn Nachteile nicht ausgeglichen und Hindernisse nicht aus dem Weg geräumt würden. Aber immer noch entscheiden das Elternhaus, Einkommen, Bildungsstand und sozialer Stand der Eltern über die Bildung, die Chancen und die Möglichkeiten der Kinder.

Ich zitiere dazu mit Erlaubnis des Präsidenten einen der Autoren einer entsprechenden Studie: Sebastian Braun, Arbeitsmarktforscher am Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Er sagt:

Selbst nach vier Generationen konnten wir immer noch einen Zusammenhang zwischen dem eigenen sozialen Status und dem der Vorfahren messen.

Konkret heißt das:

Je geringer der soziale Status der Urgroßeltern, desto geringer der Status der Urenkel heute.

Auch unser Sozialstaat betrachtet die Kinder in Abhängigkeit von ihren Eltern. Reiche Eltern erhalten für ihre Kinder einen Steuervorteil, der über dem Kindergeld in Höhe von 194 Euro liegt. Das Kindergeld erhalten durchschnittlich verdienende Eltern. Kinder von Eltern, die wenig verdienen, erhalten dazu den Kinderzuschlag von bis zu 170 Euro und das Bildungs- und Teilhabepaket, das je nach Bedarf und Beantragung variiert. Kinder aus dem Hartz-IV-Bezug erhalten zusätzlich zum Regelsatz von durchschnittlich etwa 280 Euro das Bildungs- und Teilhabepaket.

Auch wenn wir schon Ausgleichsmechanismen wie den Kinderzuschlag haben: Wer schon viel Geld hat, der bekommt für seine Kinder mehr als diejenigen, die wenig oder gar nichts haben.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist ungerecht!)

– Das ist ungerecht. – Ich glaube, hinter dem „Schleier des Nichtwissens“, wenn man nicht wüsste, in welcher Lage man sein Kind großzieht oder wo und wie man selber aufwächst, würde man das als nicht gerecht empfinden. Was man gerecht finden würde, wäre echte Chancengleichheit, der Ausgleich von Nachteilen, die Würdigung von Anstrengung, solidarisches Verhalten und Fleiß. Gerecht wäre, die Ausgangs- und Rahmenbedingungen für alle so aufzustellen, dass alle die Chance haben, ihren Weg selbstbestimmt zu gehen, um glücklich zu werden.

Um auch armen Kindern den gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Sport, Musik und Kultur zu gewähren, musste Frau von der Leyen 2011 auf Druck des Bundesverfassungsgerichts das Bildungs- und Teilhabepaket einführen. Das ist kompliziert, bürokratisch und erreicht deswegen lange nicht alle. Aber es ist besser als nichts. Viele haben sich damit arrangiert, und für viele garantiert es Teilhabe und Chancen. Deswegen wollen wir das Bildungs- und Teilhabepaket entbürokratisieren, den Zugang einfacher machen und die Leistungen verbessern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir wollen das Schulstarterpaket aufstocken und den Eigenanteil am Mittagessen in den Schulen und Kitas und für die Schülerbeförderung streichen. Wir wollen die Lernförderung verbessern. In der letzten Legislatur war das leider noch nicht möglich. Da war es noch so, dass nur Kinder, die von Abstieg bedroht sind, unterstützt werden konnten. Wir haben erreicht: Auch diejenigen, die sich in der Schule verbessern wollen und den Aufstieg angehen, bekommen unsere Unterstützung. Das ist eine richtig gute Sache.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU])

Wir brauchen perspektivisch aber mehr als das. Echte Chancengleichheit braucht einen kostenfreien Zugang zu allen Bildungseinrichtungen und Lehrmittelfreiheit. Sie braucht gemeinsames Aufwachsen trotz unterschiedlicher sozialer Herkunft. Sie braucht aber vor allem einen Paradigmenwechsel in unserer Sicht auf die Kinder.

Kinder haben eigene Rechte. Sie können ihre soziale Lage nicht aus sich heraus ändern. Deswegen tragen wir als Gesellschaft eine ganz besondere Verantwortung für sie. Deswegen muss uns jedes Kind gleich viel wert sein. Niemand darf wegen seiner Kinder arm werden. Wir brauchen für jedes Kind eine eigenständige Absicherung, die Teilhabe und gleiche Möglichkeiten garantiert.

(Beifall bei der SPD)

Wir brauchen perspektivisch eine Kindergrundsicherung, mit der alle Kinder gleich unterstützt werden, die aber dem Steuersatz der Eltern unterworfen ist. Damit kehren wir die Logik um: Wer wenig hat, bekommt mehr als derjenige oder diejenige, der oder die schon viel hat.

(Beifall bei der SPD)

Wichtige Schritte sind bereits gegangen worden, weitere Schritte werden wir in dieser Legislaturperiode gehen. Am Ende aber müssen wir mutig sein, die großen Räder in der Sozial- und Bildungspolitik zu drehen, wenn wir wirklich Chancengleichheit und ein gutes Leben für alle Kinder wollen.

Um es mit den Worten der Heldin Pippi Langstrumpf zu sagen: „Das haben wir noch nie probiert, also geht es sicher gut.“

(Beifall bei der SPD)

Der nächste Redner ist der Kollege Martin Patzelt, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7245363
Wahlperiode 19
Sitzung 38
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde: Familienförderung ernst nehmen - Kinderarmut bekämpfen
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