Andrea NahlesSPD - Regierungserklärung: Europäischer Rat und NATO-Gipfel
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die beste Form der Realpolitik für Deutschland ist die europäische Zusammenarbeit.
(Beifall bei der SPD – Lachen bei Abgeordneten der AfD)
Die europäische Zusammenarbeit ist die Grundvoraussetzung für Frieden und Wohlstand in diesem Land. Der gemeinsame europäische Markt, die gemeinsame Währung, Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, gemeinsame Produktstandards, gemeinsame Regeln für den Binnenmarkt, eine gemeinsame Außenhandelspolitik, eine europäische Bildungs- und Forschungsgemeinschaft: Auf all das sind wir absolut angewiesen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Jede Investition in die europäische Zusammenarbeit ist in unserem absolut ureigenen Interesse. Deutschland profitiert wie kein anderes Land von der Existenz der Europäischen Union. Deswegen sage ich: Europäische Zusammenarbeit ist nichts Großherziges, sondern etwas Großartiges für unser Land.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Lange Zeit war das eine gemeinsame Sichtweise: hier in diesem Hohen Haus und auch im Kreis der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Bayern auch!)
Das ist heute anders. Rechtspopulisten in Parlamenten und Regierungen verfolgen eine brandgefährliche Politik. Nach „America first“, „Hungary first“ und „Austria first“ hört man jetzt schon: „Deutschland zuerst“. Einfaches Muster: die eigenen Interessen möglichst rücksichtslos und kompromisslos vertreten, um Punkte zu machen. Dieser Ansatz ist schon historisch falsch gewesen, und er ist jetzt umso mehr falsch, weil wir eigentlich hätten lernen müssen aus dem, was hier in Deutschland passiert ist und von Deutschland ausgegangen ist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Wer rücksichtslos und kompromisslos handelt, schürt Konflikte und verschärft die Probleme. Man kann doch das Muster erkennen. Es zeigt sich jetzt in den USA bei dem dort losgetretenen Handelsstreit: Mit seiner Zollpolitik ruft Trump Reaktionen hervor, die seinen eigenen Bürgerinnen und Bürgern schaden. Dann stellt er das fest, und dann wird die Reaktion noch weiter verschärft, und er heizt den Konflikt weiter an. Verbesserungen für die Menschen: Fehlanzeige.
Die Folgen einer solchen Politik sind nur Konfrontation und Zerstörung. Deswegen fordere ich uns alle hier in diesem Hause auf, uns dieser Entwicklung überall auf der Welt entgegenzustellen. Das muss die Politik dieser Bundesregierung und dieses Hohen Hauses sein:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
nicht klein beigeben vor den Europakritikern, sondern groß ausholen.
(Lachen bei der AfD)
Wir werden die europafeindlichen Kräfte nicht zurückdrängen, indem wir uns zurückziehen,
(Udo Theodor Hemmelgarn [AfD]: Nein! Sie werden zurückgezogen!)
sondern indem wir die Vorteile Europas offensiv ausspielen.
Darum geht es im Übrigen auch beim Europäischen Rat, und darum ist es auch in den letzten Wochen gegangen, als in mühevollen Verhandlungen, auch zwischen Bruno Le Maire und Olaf Scholz, mit der Meseberger Erklärung eine Grundlage geschaffen wurde.
Die Vorteile Europas offensiv ausspielen: Darum geht es jetzt, wenn wir sagen, dass gemeinsame Regeln verhindern, dass Staaten sich bis zur Handlungsunfähigkeit verschulden müssen, um sogenannte systemrelevante Banken zu retten. Das ist doch etwas. Kontrolle und Steuerung im Finanzsektor gehen doch nur europäisch. Anders geht es doch gar nicht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Darum geht es auch, wenn wir die Finanzkraft der Euro-Staaten nutzen, um uns gegenseitig in Krisenzeiten Sicherheit zu geben, wie wir es zum Beispiel im Zusammenhang mit der europäischen Rückversicherung für die nationale Arbeitslosenversicherung überlegen. Kontrolle und Steuerung gehen auch hier nur europäisch.
Die Vorteile Europas offensiv ausspielen: Darum geht es auch bei dem Investitionshaushalt für die europäische Infrastruktur. Ein Beispiel: Deutschland hat 57 Grenzübergänge im Schienenverkehr. Davon sind überhaupt nur 25 elektrifiziert – drei in Richtung Osteuropa – und damit für den Güterverkehr geeignet. An allen anderen Übergängen müsste man eine Diesellok vorspannen, um überhaupt die Grenze überqueren zu können. Das ist doch ein Skandal im Europa 2018.
(Beifall bei der SPD – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Deutschland!)
Das ist meiner Meinung nach die Zukunftsaufgabe, die wir an den deutschen Grenzen wirklich regeln müssen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sich im Wettbewerb mit China und den USA richtig aufstellen bzw. im Wettbewerb mit dieser ganzen Weltregion: Auch das geht eben nur europäisch.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
So sieht es im Übrigen auch in der Flüchtlingspolitik aus. Es gibt nicht die nationale oder die europäische Lösung in der Flüchtlingspolitik. Es gibt Aufgaben, die wir national regeln müssen, zum Beispiel das BAMF zu reformieren,
(Martin Hebner [AfD]: Hört! Hört!)
AnKER-Zentren oder auch mal das Einwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen. Das sind Sachen, die wir national regeln müssen.
(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es gibt Fragen, die wir national entscheiden können, die wir aber auch mit unseren europäischen Partnern absprechen und koordinieren müssen, wie zum Beispiel die Rückführung woanders registrierter Flüchtlinge. Und es gibt Fragen, die wir nur gemeinsam zufriedenstellend regeln können, als gesamteuropäische Lösung, wie zum Beispiel die Sicherung der Außengrenzen, die Reform von Dublin und die solidarische Aufgabenteilung in Europa.
Die Regierungen und das Europäische Parlament – Frau Merkel hat darauf hingewiesen – sind im Übrigen schon längst dabei, diese Fragen zu besprechen, nicht erst seit dem Streit zwischen den Unionsparteien. Fünf von sieben europäischen Vorhaben für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik haben das Europäische Parlament nämlich bereits erreicht. Nichts hat sich an der Sachlage in der Flüchtlingspolitik seit Unterzeichnung des Koalitionsvertrages am 12. März dieses Jahres verändert. Wir haben detaillierte Vereinbarungen im Koalitionsvertrag getroffen, um Steuerung und Kontrolle in der Flüchtlingspolitik zu sichern.
Wir können sowohl national als auch europäisch handeln. Das muss jetzt auch geschehen. „ Streit einstellen, handeln!“ ist mein Appell.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Schließlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die SPD begrüßt, dass auf dem NATO-Gipfel im Juli eine gemeinsame Erklärung zur NATO-EU-Zusammenarbeit verabschiedet werden soll. Sich gegenseitig Sicherheit verschaffen durch ein solidarisches Unterstützungsabkommen: Dieses Prinzip finde ich mustergültig. Die Bundesregierung hat sich vorgenommen – das bewegt sich auch auf der Grundlage des Koalitionsvertrags –, die Verteidigungsausgaben hierfür bis zum Jahr 2024 auf 1,5 Prozent unserer Wirtschaftskraft anzuheben. Das ist ein wichtiges Zeichen auch in Richtung NATO. Jetzt müssen aber auch die eigenen Hausaufgaben gemacht werden. Die gravierenden Managementprobleme der Bundeswehr müssen dringend behoben werden, auch um unseren Beitrag für die europäische Sicherheit überhaupt leisten zu können; das ist nämlich der entscheidende Punkt.
(Beifall bei der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Bundeskanzlerin – ich hätte auch gerne den Bundesinnenminister begrüßt –,
(Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die Bundesrepublik Deutschland hat international eine herausragende Verantwortung als viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, als größtes Mitgliedsland in Europa, als Mitglied der NATO und in den kommenden zwei Jahren auch als Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Um uns herum agieren zunehmend autoritäre Herrscher, die ihre Macht auf Jahre und Jahrzehnte festlegen und versuchen, die europäische und die internationale Politik zu ihren Gunsten zu verändern. Dass wir in dieser Situation nur 100 Tage nach Amtsantritt der neuen Bundesregierung in einer handfesten Regierungskrise stecken, darf nicht sein.
(Beifall bei der SPD)
Die SPD unterstützt daher Sie, Frau Merkel, dabei, auf der europäischen Ebene an Lösungen für die dort zu lösenden Fragen zu arbeiten. Wir unterstützen übrigens auch den Innenminister, national die Vorhaben umzusetzen, die wir gemeinsam verabredet haben.
(Beifall bei der SPD)
Wir sind auch immer bereit, neue Fragen zu klären, wenn wir sie denn kennen.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, das ist ein Phantom!)
Die SPD handelt aus der tiefen Überzeugung, dass Europa eine stabile und proeuropäische Bundesregierung braucht. Und wir handeln aus der tiefen Überzeugung, dass Deutschland umgekehrt eine handlungsfähige und solidarische Europäische Union braucht.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Meine Damen und Herren, werden Sie Ihrer nationalen und internationalen Verantwortung gerecht, bevor es zu spät ist. Das ist an alle gerichtet, aber besonders an die Unionsparteien.
Vielen Dank.
(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Nächster Redner ist der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Christian Lindner.
(Beifall bei der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7249168 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 42 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung: Europäischer Rat und NATO-Gipfel |