Lothar BindingSPD - Bürgerentlastungsprogramm
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich finde, für eine Gratulation muss Zeit sein. Wenn das nicht mehr gehen würde, wären wir kulturell kurz vor dem Ende.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Es gab einmal ein Plakat von der FDP – ich kann mich nicht mehr erinnern, aus welchem Jahr –: „Mehr Netto vom Brutto.“ Ich habe mich – das fiel mir wieder ein, weil Herr Theurer das zitiert hat – damals immer gefragt, wo das endet. Das endet dort, wo netto gleich brutto ist; denn immer ist mehr Netto vom Brutto erst dort zu Ende, wo brutto gleich netto ist.
Was ist eigentlich die Differenz zwischen Netto und Brutto? Das will ich Ihnen sagen: der Bau von Straßen, auf denen alle fahren; Theater, in die alle gehen können; innere Sicherheit, die allen dient;
(Christian Lindner [FDP]: Mütterrente!)
eine gute Polizei, die allen hilft;
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Schwimmbäder!
Schulen, in die alle gehen können; berufliche Bildung; Frieden in Europa; Kindergärten; Schienen, auf denen alle fahren können; Datennetze, auf denen unsere Daten fließen; geförderter Wohnungsbau; Kindergeld und Kinderzuschlag usf.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider auch die Mütterrente!)
All das ist die Differenz zwischen Brutto und Netto. Wenn Sie die abschaffen wollen, dann: Gute Nacht, Deutschland!
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das ist keine gute Sache.
Ich verstehe aber, ehrlich gesagt, weil der Herr Lindner so nett lächelt, warum die FDP nicht regieren wollte. Dann hätte man so einen Antrag gar nicht stellen können. Er klingt ja unheimlich gut. Das ist so ein Ich-wünsch-mir-was-Antrag. Ich muss sagen: In dem Antrag findet sich ein verräterischer Satz. Bürgerentlastung klingt zwar gut. Aber wenn man der Sache auf den Grund gehen will, dann findet man diesen Satz:
Es gilt wieder eine faire Balance zwischen den Belastungen von Bürgerinnen und Bürgern und den Einnahmen des Staates herzustellen.
Ehrlich gesagt: Die Einnahmen des Staates sind doch die Belastungen des Bürgers. Sie sind doch geradezu gleich. Die Steuern, die die Bürger zahlen, sind die Einnahmen des Staates. Da kann man keine Fairness herstellen. Das ist ja sogar gleich.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
– Ja, das muss man sich einmal überlegen. Darum geht es doch. – Es ist anders: Die Bürgerinnen und Bürger sind nämlich der Staat. Das ist die zweite Dimension. Ich kann keine Differenz zwischen uns als Bürger und unserem Staat sehen. Deshalb sagen wir auch „Staatsbürger“. Also, das ist doch verständlich.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Uns geht es vielmehr um die Frage der Differenz zwischen Arm und Reich – da könnten wir einmal genauer hingucken – und nicht um die Differenz zwischen Bürger und Staat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie sagen, Sie wollen gerade die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen steuerlich am stärksten entlasten. Das ist vielleicht eine gute Idee. Sie schlagen hier vor, den zweiten Tarifeckwert nach rechts zu verschieben. – Jetzt frage ich: Hilft dieser Vorschlag tatsächlich der Behauptung, die Sie aufstellen, nämlich die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen zu entlasten? Die Antwort ist Nein. Es entlastet die Bezieher höherer Einkommen stärker.
Übrigens ist das systematisch unvermeidbar: Wenn man Steuern auf diese Weise senkt, entlastet das diejenigen am stärksten, die am meisten Steuern zahlen. Das also wollen Sie. Sie haben das aber nicht explizit gesagt. Hätten Sie es ehrlich gemeint, dann hätten Sie gesagt: Wir müssen den Spitzensteuersatz, der heute schon bei weniger als dem Doppelten des Durchschnittseinkommens beginnt, deutlich nach rechts verschieben. – Das wäre unbezahlbar. Also wäre es gerecht, zu sagen: Wir heben den Spitzensteuersatz deutlich an. – Das wäre ein richtig guter FDP-Vorschlag, weil das die Steuerstrukturkurve auf eine gerechte Progression zurückführen würde.
(Beifall bei der SPD)
Stattdessen beantragen Sie ein Sammelsurium von Steuergeschenken. Sie geben den Staatsbürgern sozusagen das zurück, was Sie ihnen vorher genommen haben. Das macht irgendwie keinen Sinn. Wir lehnen diese unrealistischen Versprechungen ab. Das ist das Blaue vom Himmel. Deshalb ist es schön, dass Gabriele Hiller-Ohm und einige Kollegen von der CDU/CSU schon vorgetragen haben, welche Maßnahmen wir konkret machen. Die sind kein „Wünsch dir was“, sondern ganz konkret. Dabei gibt es aber etwas richtig Dummes: Das, was wir vorschlagen und machen, muss ja bezahlt werden. Das Familienentlastungsgesetz muss im Haushalt abgebildet werden. Der Grundfreibetrag soll angehoben werden. Die kalte Progression wird kompensiert. Zur kalten Progression steht auch wieder etwas in Ihrem Antrag. So etwas Überflüssiges: Die ist schon längst erledigt.
(Zuruf von der FDP: Was?)
Seit über 20 Jahren wird sie kompensiert. Sie müssen nur auf die Tarife und auf die Bemessungsgrundlage schauen. Man muss eine kleine Berechnung anstellen, um das zu sehen; das stimmt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir wollen den Solidaritätszuschlag abschaffen, und zwar in einem ersten Schritt zur Hälfte. Später sehen wir dann, ob sich noch mehr machen lässt. Das Kindergeld wird angehoben, und es ist alles finanziert. Das macht unsere Arbeit seriös, und Ihre Arbeit ist dort, wo ich sie eben angesiedelt habe.
Schönen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank, Lothar Binding. – Der letzte Redner in der Debatte: Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion. Jetzt müssen Sie ran.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7249324 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 42 |
Tagesordnungspunkt | Bürgerentlastungsprogramm |