Susann RüthrichSPD - Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer wahrhaft turbulenten Woche beraten wir jetzt den Haushalt des Familienministeriums, des „Gesellschaftsministeriums“. Ich könnte erwähnen, wie gut ich viele Punkte darin finde. Doch lassen Sie mich den Bogen grundsätzlicher spannen.
Die Zeit, die ich persönlich bewusst überblicken kann, erstreckt sich ungefähr über die letzten 30 Jahre. Mit der friedlichen Revolution stand mir unerwartet die Welt offen. Ich durfte erleben, wie aus einem autoritären Land ein demokratisches wurde. Und ich wusste: Dieses Geschenk möchte ich mir nie, nie wieder nehmen lassen.
Viel wurde investiert: in Straßen, in Schienen, in Städte, sozusagen in die Hardware. Wie sah es aber mit der Software aus? War uns die soziale Infrastruktur ebenso viel wert, dass die Menschen auch ankommen, mitkommen? Denn Demokratie braucht ja genau das: dass Menschen sie wollen. Schon 1991/92 zeigten sich Risse: Hoyerswerda, Rostock. Ich spürte eine existenzielle Verunsicherung bei allen um mich herum, ein Klima, in dem Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt groß wurden. Solche Beates, solche Uwes gab es viele. Eine mordende Terrorzelle bildeten nur die drei.
Dann der Sommer im Jahr 2000, der „Sommer der Anständigen“, ausgerufen nach einem antisemitischen Übergriff – in Düsseldorf wohlgemerkt. Die ersten Förderprogramme entstanden. Das Engagement von vielen Aktiven wurde anerkannt. Das ist jetzt 18 Jahre her. An was ich mich nicht erinnern kann, ist, dass die Aktiven auch nur einmal gesagt hätten, dass sie einfach ihrer Arbeit nachgehen können, ohne die Frage im Hinterkopf, wie es weitergeht.
(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Ja!)
Im Frühjahr dieses Jahres habe ich einen erleichterten Seufzer gespürt: Franziska Giffey entfristet das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ – sehr, sehr gut.
(Beifall bei der SPD)
Und dann stehe ich, nachdem ich bereits seit drei Jahren montags in Dresden die Innenstadt meide, weil ich Spruchgesänge wie „Absaufen! Absaufen!“ nicht ertragen könnte, nachdem ich bei den Einheitsfeierlichkeiten oder bei der Brauhausrede in Dresden vor Scham im Boden versinken wollte, dieser Tage in Chemnitz, und ich höre: Wir standen vor 30 Jahren hier, wir haben ein System gestürzt, und wir werden es wieder tun. – Ich sehe Nazis, Unterstützerumfeld des NSU, Hooligans, das Kind auf den Schultern des Papas, Menschen, die aussehen wie du und ich. Mir stehen da Menschen gegenüber, die haben nicht einfach Kritik, die haben auch keine Angst und schon gar nicht trauern sie. Sie wollen unsere Demokratie abschaffen.
(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Genau!)
Vielen geht es genau darum, und AfD-Mitglieder mitten unter ihnen. Und ich sage Ihnen: Sie werden damit keinen Erfolg haben.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie wollen ein anderes, ein furchtbares Land. Sie werden es nicht bekommen!
Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, denen unser freiheitliches Land am Herzen liegt: Tun wir genug? Reicht es, ein Programm „Demokratie leben!“ zu haben? Reicht es, den Zusammenhalt durch die Bundesfreiwilligendienste, die Mehrgenerationenhäuser, die Jugendverbandsarbeit usw. zu stärken? Meine Antwort ist: Nein, wir müssen mehr tun. Wir müssen es deutlicher tun. Wir alle! Wir brauchen das deutliche Signal: Unsere Demokratie ist unsere Herzensangelegenheit. Wir brauchen ein Demokratiegesetz. Überall in Deutschland sollten alle Demokratinnen und Demokraten wissen: Ihr könnt euch auf uns verlassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es bei den Angriffen auf unsere Demokratie weder mit einem regionalen noch mit einem Problem einer bestimmten Altersgruppe zu tun. Deswegen sind wir auch alle verantwortlich, auch der Staat. Dass ich das eigens erwähnen muss, macht mich nach dem NSU fassungslos. Aber wenn in Chemnitz bei einem Angriff auf ein jüdisches Restaurant in zeitlichem Zusammenhang mit den größten rechtsextremen Demos der letzten Jahre nicht unmittelbar ein rechter Hintergrund erwogen wird und gleichzeitig von unseren Sicherheitsbehörden semantisch darum gerungen wird, ab wann sich Menschen ausreichend bedroht fühlen dürfen, damit von Hetzjagden gesprochen wird, ja, dann müssen wir wohl auch staatliche Stellen noch deutlicher dazu verpflichten, sich des Problems menschenverachtender Einstellungen anzunehmen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)
Behörden wie auch allen anderen empfehle ich, die Seite https://demokratie-scan.netzwerk-courage.de im Internet aufzurufen und den Fragebogen auszufüllen. Wenn Sie dann zu dem Schluss kommen, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist: Glückwunsch. Wenn Sie aber bemerken: „Ups, an der Stelle könnte ich nicht freien Herzens sagen, dass bei uns alles in Butter ist“, dann tun Sie was. Empfehlungen, was man tun kann, finden Sie im Übrigen auch auf dieser Seite.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe wie alle meine ostdeutschen Landsleute erlebt: Nichts ist selbstverständlich, unsere Demokratie schon gar nicht. – Wir lassen sie uns von keinem nehmen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Rüthrich. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Sylvia Pantel.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7271436 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 49 |
Tagesordnungspunkt | Familie, Senioren, Frauen und Jugend |