27.09.2018 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 52 / Tagesordnungspunkt 27

Gyde JensenFDP - Türkei

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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Türkei ist ein Land, in dem Freiheit und Sicherheit völlig aus der Balance geraten sind; ein Land, in dem Tausende Menschen unter Generalverdacht gestellt werden und digitale Gestapo-Methoden gegen die eigene Bevölkerung angewandt werden; ein Land, in dem Menschen ohne Anklage und Beweismittel auf unbestimmte Zeit eingekerkert werden; ein Land, in dem Presse- und Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt werden, mit mehr als 150 Journalisten im Gefängnis.

Meine Damen und Herren, Präsident Erdogan lässt keinen Zweifel daran, dass er freie Meinungen als Gefahr begreift, diese angreift und unterdrückt und die Axt an die Grundwerte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit legt. Beim Staatsbesuch des türkischen Präsidenten müssen daher die Menschenrechtslage und die Erosion des türkischen Rechtsstaates als zentrales Thema angesprochen werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deniz Yücel hat es sehr treffend gesagt: Mit Gang­stern muss man die Sprache sprechen, die sie selbst sprechen. – Die Bundesregierung macht jedoch genau das Gegenteil. In vorauseilendem Gehorsam stellt Bundesfinanzminister Olaf Scholz der Türkei sogar Finanzhilfen in Aussicht, ohne dass die Türkei überhaupt nach deutscher Hilfe gefragt hätte, ohne dass es eine Verbesserung der demokratischen Qualität und Rechtsstaatlichkeit gegeben hätte. Ganz im Gegenteil: Die Bundesregierung spielt ohne einen klaren Wertekompass das Spiel eines Despoten mit und bietet einem Antidemokraten eine Plattform für dessen politische Machtspiele. Wenn das Ihre Haltung ist, kann der Staatsbesuch nicht der Anfang einer Normalisierung der Beziehungen sein, sondern das ist die Pervertierung des Gastrechts durch einen ausländischen Staatsgast.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Alice Weidel [AfD])

Dialog und Austausch – sehr gerne bei einem Arbeitstreffen. Staatsbankett und militärische Ehren – in diesem Fall nicht.

Meine Damen und Herren, über 3 Millionen türkischstämmige Bürgerinnen und Bürger nennen Deutschland ihre Heimat. Gerade daraus erwächst eine besondere Verantwortung auch für uns – für die Menschen, die eine andere Türkei wollen.

Ich selbst habe diese andere Türkei erlebt, die andere Hälfte des Landes, die trotz Präsident Erdogans ununterbrochener Unterdrückungskampagne den Weg ins Sultanat ablehnt. Während der Wahlbeobachtung habe ich verfolgt, wie Tausende Menschen in Izmir, in Istanbul für Freiheit und Demokratie auf die Straßen gegangen sind. Diese Menschen haben gezeigt, wie Demokratie in der Türkei aussehen kann. Es sind diese Menschen in der Türkei, die Sie beiseiteschieben. Sie machen Präsident Erdogan den Hof. Es geht schon lange nicht mehr darum, noch den EU-Beitritt zu realisieren, es geht vielmehr darum, die zunehmende Polarisierung zwischen Demokratie und Despotie anzusprechen.

(Beifall bei der FDP)

Es geht um Reformen auf der Grundlage einer realistischen Partnerschaft. Es geht darum, gemeinsam universelle Werte zu verteidigen; denn Europa ist für viele Türken weiterhin der Kontinent jener Regeln, die in ihrem eigenen Land mit Füßen getreten werden, der Kontinent für Pressefreiheit, für Bürgerbeteiligung, für Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit der Geschlechter, Gewaltenteilung, Demokratie und auch Säkularisierung.

Meine Damen und Herren, diese Menschen müssen wir verstehen und nachvollziehen, welche Auswirkungen autokratische Regime auf die Schicksale Einzelner haben. Zum Schluss meiner Rede möchte ich von solch einem Schicksal berichten, das mich sehr berührt hat.

Der Autor Ahmet Altan wurde wegen regierungskritischer Artikel ohne Beweise und ohne die Möglichkeit einer Bewährung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Gestern erschien sein in Haft geschriebenes Buch, das den Titel „Ich werde die Welt nie wiedersehen“ trägt. Mit Erlaubnis des Präsidenten möchte ich gerne zehn Zeilen aus diesem Buch mit Ihnen teilen:

Durch das vergitterte Fenster des Saals sah man in einen kleinen gepflasterten Hof. Ich streckte mich auf dem Bett aus. Stille. Eine tiefe, dunkle Stille. Kein Ton, keine Bewegung. Das Leben hatte plötzlich haltgemacht. Es war erstarrt. Kalt und leblos. Das Leben war gestorben. Unversehens gestorben. Ich lebte, aber das Leben war tot. Während ich geglaubt hatte, ich würde sterben, das Leben aber weitergehen, war das Leben gestorben, aber ich war noch da.

Danke schön.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Nick, CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7276096
Wahlperiode 19
Sitzung 52
Tagesordnungspunkt Türkei
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