Frank SchwabeSPD - Türkei
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein besonderes Verhältnis, das Deutschland und die Türkei haben, zum einen als NATO-Partner, zum anderen, weil die Türkei der östliche Teil Europas ist, eine Brücke Richtung Asien, Richtung Nahem und Mittlerem Osten. Wir haben in der Tat eine besondere Zuwanderungsgeschichte eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung in diesem Land. Deswegen gibt es gemeinsame Herausforderungen, und deswegen macht es auch Sinn, sich regelmäßig darüber auszutauschen.
Ich will sagen, dass es in der Vergangenheit sicherlich auch Fehler gab, aufseiten der Europäischen Union und, wie ich finde, ebenso in Deutschland. Wir waren nicht offen genug, und das zu einem Zeitpunkt, als Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in der Türkei bessere Chancen hatten, als es heute der Fall ist.
Wir sind heute dabei, eine Bestandsaufnahme zum Thema „Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechte“ vorzunehmen. Hier sind wir bis heute mit einem massiven Abbau und mit einer dramatischen Situation in der Türkei konfrontiert. Wir nehmen wahr, dass es den Versuch gibt, durch einen solchen Besuch Signale der Entspannung zu senden. Aber ich halte es da mit dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der davon gesprochen hat, dass man sich in dieser Situation keinen Illusionen hingeben sollte. Deswegen glaube ich: Es ist richtig, zu reden, aber es ist auch richtig, Klartext zu reden. Ich finde, was immer man tut, man sollte einen vernünftigen Umgang miteinander pflegen. Es kommen gleich noch Redner, die an dem Bankett teilnehmen oder eben auch nicht teilnehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Debatte hilft niemandem. Wir müssen überlegen, welche Debatte hilft. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir ein gemeinsames Signal heute aus diesem Deutschen Bundestag senden.
(Beifall bei der SPD)
Ich habe heute einen Gastbeitrag des türkischen Präsidenten in der „FAZ“ gelesen. Es ist eine Art Brief an uns, in dem er sagt, dass er die deutsch-türkischen Beziehungen weiterentwickeln möchte. Ich kann nur sagen: Das ist sicherlich unser gemeinsames Ziel. Aber dass wir ein angespanntes Verhältnis haben, hat eben einen Grund, und ich finde, die gemeinsame Antwort des Deutschen Bundestages – bei allen Nuancen, die wir in der Debatte haben – sollte sein: Herr Präsident Erdogan, wenn Sie eine Entspannung des Verhältnisses wollen, dann achten Sie die Regeln der Demokratie, des Rechtsstaats und der Menschenrechte, zu denen Sie sich selbst in der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet haben,
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alice Weidel [AfD]: Macht er ja nicht! Und jetzt?)
und unterlassen Sie das, was Deniz Yücel erst vor ein paar Tagen so beschrieben hat: „erst verhaften, dann Beweise suchen und schließlich schmoren lassen“ – und dann, dann ist es eigentlich auch schon egal.
(Dr. Alice Weidel [AfD]: Macht er, ja!)
Das muss man, glaube ich, auch mal in Zahlen deutlich machen – es ist legitim, sich gegen Putschversuche zu wehren; was nicht legitim ist, ist, sich Sonderregeln zu schaffen, um Hunderttausende Menschen massenhaft zu unterdrücken –: Es gab fast 120 000 vorläufige Festnahmen, aktuell sind noch 53 000 inhaftiert. Über 170 000 Menschen wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen, ohne die Möglichkeit, das gerichtlich überprüfen zu lassen. Amnesty International stellt fest, dass 120 Journalisten inhaftiert sind, 180 Medienunternehmen geschlossen sind und über 100 Journalisten ihre Akkreditierung verloren haben. Deswegen wird die Türkei beim Index der Pressefreiheit auf Platz 157 von 180 geführt.
(Dr. Alice Weidel [AfD]: Und darum veranstalten Sie ein Staatsbankett!)
Das sind die nackten Zahlen.
Aber man kann auch über konkrete Fälle reden, über Fälle wie die gerade angesprochenen, von Taner Kilic von Amnesty International, von Can Dündar, der hier in Berlin, ich sage, im Exil sitzen muss. Wir haben schon den Fall von Selahattin Demirtas angesprochen, dem Chef der HDP, der in Haft sitzt. Ich will an der Stelle noch mal untermauern, was gerade gesagt wurde: Abgeordnete gehören ins Parlament und nicht ins Gefängnis! Auch das ist, glaube ich, das gemeinsame Signal dieses Parlaments am heutigen Tag.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Ich will mich ausdrücklich bei denjenigen bedanken, die bei unserem Parlamentarischen Patenschafts-Programm mit dabei sind – man kann das sicherlich noch weiterentwickeln –, die Patenschaften für verfolgte Parlamentarier in der Türkei übernommen haben. Deswegen die herzliche Bitte: Wer noch nicht mit dabei ist, kann sich gerne an diesem Programm beteiligen.
Es gibt deutsche Staatsbürger, die zum Teil heute schon angesprochen worden sind, wie Peter Steudtner, Mesale Tolu und Deniz Yücel, die zwar frei sind, die nicht im Gefängnis sitzen, aber denen immer noch keine Gerechtigkeit widerfahren ist, die noch immer nicht entschädigt worden sind, bei denen die Verfahren noch anhängig sind; das sind die prominenteren Fälle. Es gibt weitere Dutzende Deutsche, die in Haft sind oder die nicht ein- oder ausreisen können, über die kaum gesprochen wird.
Ich will einen Fall besonders beleuchten, und zwar den von Mehmet Y., „Y.“ deshalb, um ihn zu schützen, wenn er wieder nach Deutschland kommen kann. Wir haben die absurde Situation, dass Herr Y. in einem EU-Mitgliedstaat, nämlich in Bulgarien, in einem Hotel in Warna in Hausarrest sitzt – eine für mich eigentlich absurde Vorstellung –, weil er mit einer sogenannten Red Notice gesucht wurde, die Interpol aussprechen kann. Ich finde, es kann nicht sein und ist einfach inakzeptabel, dass die Türkei versucht, deutscher Staatsbürger so habhaft zu werden. Was aber auch inakzeptabel ist, ist, dass ein EU-Mitgliedstaat wie Bulgarien gemeinsame Sache mit der Türkei macht. Ich denke, wir sollten fordern, dass Mehmet Y. sofort nach Deutschland zurückkehren kann.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Noch einmal: Erstens. Respekt, ja, den muss es geben; der wird eingefordert. Zweitens. Es muss auch Anerkennung geben für das, was die Türkei zum Beispiel im Hinblick auf die Geflüchteten leistet. Drittens. Klar, wenn Probleme angesprochen werden – Rassismus beim Umgang mit den NSU-Morden –, dann ist das berechtigt und dann müssen wir darüber reden. Viertens. Dialog muss es geben, sowieso und wo immer möglich, aber eben auch Klarheit in der Sache.
Der Europarat ist gerade angesprochen worden. Die Türkei ist seit 1949 Mitglied und hat sich durch ihre Unterschrift zu bestimmten Dingen verpflichtet, zum Beispiel dazu, die Venedig-Kommission zu achten und die Empfehlungen umzusetzen, zum Beispiel dazu, die Gerichtsurteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen. Wir fordern, dass die Berichte des Antifolterkomitees veröffentlicht werden, und wir fordern einen freien Zugang für Berichterstatter des Europarates, aber auch der Vereinten Nationen zu allen Teilen der Türkei.
Noch einmal: Den „FAZ“-Artikel habe ich aufmerksam gelesen. Ich versuche, ihn zu verstehen, versuche auch, zu überlegen, wo man Brücken bauen kann. Ich hätte auch einen konkreten Vorschlag: Lassen Sie uns auf der kleinen Ebene nutzen, was wir an Kontakten haben, zum Beispiel die Städtepartnerschaften. Wir sollten überlegen, wie wir die entsprechend ausbauen und auch institutionalisieren können, zum Beispiel so, wie wir es mit Griechenland gemacht haben. Also: Kennenlernen, Austausch, Dialog, Empathie, Arbeiten an gemeinsamen strategischen Interessen, ja. Aber beim Thema „Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit“ kann es keine Kompromisse geben. Das ist die klare Ansage des heutigen Tages und der heutigen Debatte.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vielen Dank, Frank Schwabe. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke: Sevim Dağdelen.
(Beifall bei der LINKEN)
Source | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
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Electoral Period | 19 |
Session | 52 |
Agenda Item | Türkei |