27.09.2018 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 52 / Zusatzpunkt 5

Helge LindhSPD - Aktuelle Stunde zum Agieren der Bundesregierung in Sachen Chemnitz und in der Causa Maaßen

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Chemnitz sind wir alle – das meine ich sehr ernst –; denn es geht um das Eingemachte unserer politischen Kultur und um deren Verwerfungen, es geht um unseren Umgang und das, was eingerissen ist im Umgang mit Menschen und Umgang mit Wahrheit. Juli Zeh hat das ziemlich gut beschrieben mit den Worten: Jeder lebt in seinem eigenen Universum, in dem er von morgens bis abends recht hat.

Unsere Aufgabe ist es aber, erst recht nach Chemnitz, eine Klärung in dieser politischen Kultur herbeizuführen. Auftraggeberin dieser Klärung ist unter anderem eine Deutschkubanerin aus Chemnitz, die eine gute Bekannte des Erstochenen war und die jetzt aktuell um die Sicherheit ihres dunkelhäutigen Kindes auf der Straße fürchtet; sie ist unsere Auftraggeberin.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wie kann diese Klärung aussehen? Ich denke, wir müssen unterscheiden zwischen den Begriffen „populär“ und „populistisch“. Populär ist es, der Bevölkerung im Ganzen zu dienen. Populistisch ist es, das Volk zu missbrauchen, wie Sie es tun, zu benutzen, zu instrumentalisieren, und das in jeder Sitzung dieses Hohen Hauses.

(Beifall bei der SPD)

Im Übrigen sollten auch einzelne Mitglieder unserer Regierung, die wir mittragen, verstanden haben – spätestens nach Chemnitz –, dass der Versuch, populistisch zu sein, um populär zu werden, kein Erfolgskonzept ist.

(Beifall bei der SPD)

Populär hingegen und im besten Sinne demokratisch ist es, aufgrund von Kritik und demokratischem Druck aus weiten Teilen der Bevölkerung Fehler, klare Fehler, auch zu benennen, zu bekennen, sie zu korrigieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Das ist populär und gerade nicht populistisch.

(Beifall bei der SPD)

Populistisch ist anderes: Wenn man sich über Gewalt nur aufregt, sofern sie von Ausländern und Flüchtlingen verübt wurde, ist dies ein Verrat an den Werten dieses Landes.

(Beifall bei der SPD)

Wenn man sich empört über Antisemitismus nicht etwa in den eigenen Reihen, aber nur, wenn man damit Muslime denunzieren kann, dann ist das eine Verhöhnung dieses Landes.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Und wenn man plötzlich die Frauenrechte für sich entdeckt, aber nur in dem Fall, wenn man Stimmung gegen Araber oder Afrikaner machen kann, zeitgleich aber in den eigenen Papieren Frauenrechte schleift und einschränkt, dann ist das eine Verachtung gegenüber diesem Land.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir alle kennen den Ausdruck „Wir schaffen das“, und wir wissen fast alle, dass er noch mehr durch eine gesamtgesellschaftliche Integrationspolitik hätte unterlegt werden müssen. Aber will denn ernsthaft irgendeiner in diesem Hause infrage stellen, dass die Alternative zu einem „Wir schaffen das“ eine nicht denkbare Alternative wäre? Eine moderne, eine offene Gesellschaft lebt vom Sein und nicht vom Nichtsein. Sie lebt davon, dass wir verliebt sind ins Gelingen und nicht eine zynische Freude, wie zum Beispiel die AfD-Fraktion, am Scheitern haben. Sie lebt davon, dass wir wollen, dass Zusammenleben funktioniert, und dass wir uns nicht daran ergötzen, wenn Gruppen gegeneinander aufgehetzt werden. Das ist der Kern einer demokratischen zivilen Gesellschaft, wie wir sie übergreifend verteidigen müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich hätte nie gedacht, dass ich Folgendes einmal hier in diesem Hohen Hause sagen muss – aber ich tue es ganz bewusst –: Ich spreche vor Ihnen als stolzer bundesrepublikanischer Deutscher und als stolzer Patriot dieses Landes. Ich kann nicht mehr ertragen, wie vor und nach Chemnitz Patriotismus verhunzt wird durch Rechtspopulisten inner- und außerhalb des Parlaments,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

wie der Begriff der Heimat verhunzt, reduziert und denunziert wird durch Rechtspopulisten inner- und außerhalb dieses Parlaments. Nicht sie haben einen Alleinvertretungsanspruch auf Nation und erst recht nicht auf Heimat, nein, wir gemeinsam entscheiden darüber, und unser Heimatbegriff, erst recht nach Chemnitz, ist ein offener und einschließender und kein ausschließender Begriff.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Deshalb sage ich auch ganz bewusst und selbstbewusst, dass wir die Leitkultur dieses Landes auf unserer Seite haben. Denn was ist die Leitkultur dieses Landes? Die Leitkultur dieses Landes ist das Grundgesetz und auch die kulturellen Traditionen des Abendlandes,

(Jürgen Braun [AfD]: Oh! Das ist aber neu!)

die aber von Beginn an christlich-jüdische waren und – jetzt werden Sie sich noch mehr aufregen – früh geprägt durch die Begegnung mit dem Orient und dem Islam.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn Sie es mir nicht glauben: Lesen Sie einen urdeutschen Nachwuchsschriftsteller, sein Name ist Goethe und das Buch heißt „West-östlicher Divan“.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, –

Kommen Sie bitte zum Ende.

– wir brauchen jetzt nicht nur einen Aufstand der Anständigen, wir brauchen endlich einen demokratischen Aufstand

(Zuruf des Abg. Jürgen Braun [AfD])

derjenigen, die dieses Land lieben, gegen diejenigen, die es offensichtlich und erkennbar hassen und verachten. Nur wenn wir diesen gemeinsam, fraktionsübergreifend schaffen, dann kann die Deutschkubanerin, die ich erwähnte, wieder unverbrüchlich dieses Land lieben, mit ihm versöhnt sein und ihr Kind ohne Angst in die Schule schicken.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Vielen Dank, Helge Lindh. – Nächster Redner: Mario Mieruch.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7276364
Wahlperiode 19
Sitzung 52
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde zum Agieren der Bundesregierung in Sachen Chemnitz und in der Causa Maaßen
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