Andrea NahlesSPD - Regierungserklärung: Europäischer Rat u. ASEM-Gipfel
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Mai 2019 wird in Europa gewählt, und vor uns liegen mit Sicherheit entscheidende Monate für Europa. Vieles, was wir die letzten vier Jahre erlebt haben, ist anders gelaufen, als wir uns das bei der letzten Europawahl gedacht haben. Die Nachwirkungen der Finanzkrise, Brexit, Flucht nach Europa, nicht zuletzt eine neue Politik der US-Regierung – all das hat die Tagesordnung in Europa komplett geändert. Vieles, was wir uns vorgenommen hatten, konnten wir nicht umsetzen.
Manche versuchen, daraus jetzt etwas abzuleiten, nämlich: Die Zeit für Europa sei vorbei, man müsse jetzt am besten alles wieder in der nationalen Hütte, also in der nationalen Logik, lösen. – Ich sage: eine Verdrehung der Tatsachen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Finanzmarktkrise, Brexit, Flucht, Trump – diese Ereignisse sind kein Beleg für das Ende Europas oder das Scheitern Europas. Das sind Ereignisse, die belegen: Das genaue Gegenteil ist notwendig; wir brauchen mehr Europa, und zwar jetzt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Tino Chrupalla [AfD]: So ein Quatsch!)
Großbritannien spürt bitter, was es wirklich heißt, den Schutz der Europäischen Union zu verlieren. Wir können Großbritannien diese bittere Erfahrung und diesen Weg nicht ersparen.
(Lachen der Abg. Dr. Alice Weidel [AfD])
Es war nämlich nicht die EU, die Großbritannien aufgefordert hätte, auszutreten, sondern das, was wir jetzt haben, ist eine unausweichliche Konsequenz des Brexit. An der gemeinsamen Linie aller Mitgliedstaaten gibt es aus meiner Sicht nichts zu rütteln.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich möchte es noch einmal klar sagen: Der freie Verkehr von Waren, von Dienstleistungen, von Personen und von Kapital – das gehört nun mal zusammen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Michael Theurer [FDP])
Einen Binnenmarkt à la carte für Großbritannien kann es nicht geben. Es darf keine Rosinenpickerei geben. Es darf kein anderes europäisches Land auch nur die Idee bekommen, dass das geht.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das nannte man früher Strafexpedition!)
An dieser Stelle ganz klare Unterstützung für die Verhandlungslinie der Europäischen Kommission!
An die Adresse Großbritanniens kann man nur sagen: Noch ist es nicht zu spät, um vernünftige Lösungen zu finden. Genau darüber reden wir ja in diesen Wochen. Wir wissen, wie schwierig die Grenzfrage in Bezug auf Irland und Nordirland ist; Frau Merkel hat darauf hingewiesen. Aber auch hier ist eine der wesentlichen Voraussetzungen, dass sich die britische Regierung bewegt; denn eines kann man nicht oft genug wiederholen: Es war Großbritannien, das alles hingeschmissen hat. Weil es um die Menschen geht, sind wir bereit, alles Menschenmögliche zu tun, um gute Lösungen zu finden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es darf aber unter keinen Umständen Zugeständnisse geben, die zulasten der Bürgerinnen und Bürger im Rest von Europa gehen. Das geht auch nicht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Dabei meine ich vor allem: Zukünftige Handelsabkommen Großbritanniens dürfen nicht – auch nicht über die Grenze Nordirlands – die Standards europäischer Handelsabkommen unterlaufen. Das ist aus meiner Sicht keine Option.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Damit bin ich beim zweiten Thema des Gipfels: Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion. Das ist ein Dauerthema, weil es so besonders wichtig ist. Die Entscheidungen stehen für Dezember an. Danach wird es Monate dauern, bis sich alles konstituiert hat, und es wird erstmal keine Möglichkeiten geben, voranzukommen. Ich bitte daher, diesen Gipfel wirklich ernsthaft zu nutzen, um eine Vertiefung voranzutreiben und beispielsweise im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion Fortschritte zu erreichen. Das Zeitfenster für Einigungen schließt sich nämlich, und wir wollen, dass wir jetzt handlungsfähig sind. Das war einer der wichtigen Gründe, warum wir diese Regierung unterstützt und gebildet haben. Deutschland und Frankreich haben in diesem Sinne in Meseberg eine gemeinsame Marschrichtung entwickelt. Das finde ich wichtig; man sollte auch weiterhin zusammenarbeiten.
Der Ausbau des Europäischen Stabilitätsmechanismus und seine Weiterentwicklung zum Europäischen Währungsfonds sollten bis Jahresende vorankommen.
(Beifall bei der SPD)
Wir setzen damit auch darauf, dass Wirtschaftskrisen – wir können nicht sicher sein, dass es in Zukunft nicht wieder welche gibt – schneller und besser gelöst werden können als die Finanzkrise 2008. Darum geht es dabei. Wir brauchen weitere Schritte zur Stärkung der Bankenunion und zum Abbau der Risiken in den Bankenbilanzen. Ich bin deswegen Bundesfinanzminister Olaf Scholz dankbar, dass Bewegung in die Verhandlungen gekommen ist und dem Europäischen Parlament jetzt etwas vorliegt. Das zeigt, dass man in Europa schwierige Themen in schwierigen Zeiten erfolgreich voranbringen kann. Das sollte uns Mut machen für die Klärung anderer Fragen.
(Beifall bei der SPD)
Aus meiner Sicht brauchen wir Klarheit: Ohne den Euro wären wir vollständig von der US-Geldpolitik abhängig; mit dem Euro sichern wir uns die Handlungsfähigkeit, die wir brauchen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Je besser die Regeln – und das ist für mich die Grundlogik – hinter dem Euro sind, desto stabiler wird der Euro sein und desto besser können wir zukünftige Krisen bewältigen. Das ist der Zusammenhang, um den es geht. Ich weiß, wenn die Leute „Bankenunion“, „Bankenbilanzen“ usw. hören, dann sind sie skeptisch. Nein, es geht um die Frage, ob wir autonom und selbstbestimmt in Europa Finanz- und Geldpolitik machen und zukünftig in Krisen selbstständiger und autonomer agieren können. Das ist der Kern, worum es in Europa geht.
(Beifall bei der SPD – Christian Lindner [FDP]: Genau! Private Banken wieder heraushauen mit Steuerzahlergeld!)
Wir werden auch – das steht jetzt an – ausbuchstabieren müssen: Was heißt das jetzt genau: Wirtschafts- und Finanzpolitik? Das heißt für mich zum Beispiel auch Investitionsbudget. Das heißt für mich auch ein Stabilisierungsfonds für Arbeitslosenversicherung. Das heißt für mich auch eine Besteuerung von digitalen Wirtschaftsunternehmen.
(Dr. Alice Weidel [AfD]: Umverteilung, Umverteilung, Umverteilung!)
Das ist eine wichtige Frage, die geklärt und vorangetrieben werden muss. Die letzte große Krise hat sich vor allem auf dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger abgespielt, übrigens am wenigsten noch in Deutschland, aber in allen anderen europäischen Ländern. Viele spüren die Auswirkungen bis heute. Wir müssen bei der nächsten Krise so aufgestellt sein, dass die Milliarden in die Rettung von Arbeitsplätzen und nicht in die Rettung von Banken fließen.
(Beifall bei der SPD)
Deswegen verhandelt Olaf Scholz einerseits über die europäische Arbeitslosenversicherung und andererseits über die Bankenunion. Das ist der Zusammenhang. Wir müssen beides hinbekommen; nur eines davon reicht nicht.
(Beifall bei der SPD)
Es ist vollkommen klar, dass das alles nicht einfach ist, und sicher werden wir im Dezember nicht alles, was ich vorgetragen habe, verabreden können. Aber worauf es für mich ankommt, ist: An Deutschland dürfen die Verhandlungen in dieser wichtigen Phase nicht scheitern. Wir müssen verhandlungs- und abschlussfähig sein.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Deutschland muss bei diesen Verhandlungen zusammen mit Frankreich die Lokomotive sein.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Zur Stärkung unserer Autonomie und Handlungsfähigkeit gehört auch eine gute Partnerschaft mit Asien. Wir haben größtes Interesse daran, mit den asiatischen Staaten in einen regelbasierten internationalen Welthandel innerhalb der Weltordnung zu kommen. Ich begrüße es daher sehr, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs mit den asiatischen Kollegen zum Europa-Asien-Gipfel zusammenkommen, auch mit China. Ja, das ist das Gegenteil von Handelskrieg. Das ist eine internationale Politik, von der alle Beteiligten profitieren können. So muss es sein und nicht so, dass man sich mit Strafzöllen und Handelskrieg gegenseitig das Leben schwer macht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die österreichische Ratspräsidentschaft hat sich, wie Sie wissen, einen Schwerpunkt gesetzt: die Stärkung der inneren und äußeren Sicherheit Europas. Mit den bislang erzielten Fortschritten kann man beim besten Willen nicht zufrieden sein – das ist eine Zwischenbilanz –; daran muss dringend weitergearbeitet werden. Kooperation und Zusammenarbeit sind gerade in Fragen der Sicherheitspolitik von entscheidender Bedeutung.
Da es in den anstehenden Beratungen übrigens auch um Cybersicherheit geht, möchte ich in diesem Haus einen Punkt besonders hervorheben: Dass wir heute einen US-Präsidenten haben, der offen die Spaltung Europas vorantreiben will, hat auch mit massiven Lecks in der Cybersicherheit zu tun. Der US-amerikanische Wahlkampf ist massiv durch rechtswidrigen Umgang mit Daten beeinflusst worden. Das darf bei den Wahlen zum Europäischen Parlament nicht passieren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir müssen unsere demokratischen Entscheidungsprozesse vor rechtswidriger Einflussnahme von innen und außen schützen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein starkes Europa ist gut für die Bürgerinnen und Bürger, ein schwaches Europa – das ist meine tiefste Überzeugung – ist schlecht für die Bürgerinnen und Bürger; denn nur mit einem starken Europa können wir heute das leisten, was wir als Bürgerinnen und Bürger von einem handlungsfähigen Staat insgesamt erwarten dürfen. Europa bedeutet Schutz, Europa bedeutet auch Selbstbehauptung, Europa bedeutet neue Perspektiven in unsicheren Zeiten. Deswegen wird diese Europawahl nicht irgendeine Wahl sein. Es geht um nichts weniger als um die Zukunft eines friedlichen, eines weltoffenen, eines auf Kooperation und wechselseitiges Unterhaken und Stärken ausgerichteten und eines wirtschaftlich starken Europas. Das wird in unserem Land von innen angegriffen, und es wird leider auch von vielen von außen angegriffen. Deswegen ist das eine der wichtigsten Europawahlen, und es lohnt sich, auf der Strecke dahin noch möglichst viel gemeinsam herauszuholen. In diesem Sinne wünsche ich den Beratungen viel Erfolg.
Danke.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Jetzt hat das Wort der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Christian Lindner.
(Beifall bei der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7282305 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 57 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung: Europäischer Rat u. ASEM-Gipfel |