17.10.2018 | Deutscher Bundestag / 19. EP / Session 57 / Tagesordnungspunkt 1

Martin SchulzSPD - Regierungserklärung: Europäischer Rat u. ASEM-Gipfel

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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am vergangenen Freitag gab es eine Einigung zwischen Theresa May und ihren Unterhändlern und den Unterhändlern der Europäischen Union. Diese Einigung schloss insbesondere ein, dass die Übergangsfrist, die von Großbritannien gewünscht worden war, um ein weiteres Jahr verlängert wird, damit im Rahmen der dann entstehenden Zollunion die anstehenden Fragen gelöst werden können – ein fairer Deal, wie ihn Großbritannien verlangt hat und wie ihn die EU zugestanden hat. Als Theresa May dann nach London, nach Hause fährt, sagen ihr mindestens vier ihrer Regierungsmitglieder: Mit uns nicht. – Wieder steht der Zug still.

(Stephan Brandner [AfD]: Schulz-Zug! – Heiterkeit bei der AfD)

Warum? Warum steht der Zug still, der in Europa fahren müsste? Aus einem ganz einfachen Grund:

(Jürgen Braun [AfD]: Der entgleisende Schulz!)

Seit mehreren Jahren wird Europa in Geiselhaft genommen von einer einzigen Partei, der Konservativen Partei Großbritanniens, deren innere Machtstruktur dazu führt, dass Großbritannien handlungsunfähig und paralysiert ist. Und wenn es einen Punkt gibt, an dem man einer Regierungschefin sagen müsste: „Erst das Land, dann die Partei“, dann gilt das für Theresa May in diesen Tagen. Sie hat im Unterhaus eine Mehrheit. Die Liberaldemokraten, die Konservativen, die proeuropäisch sind, die übrigens in der Mehrheit sind, und auch ein großer Teil aller anderen Abgeordneten, die in der Opposition sind, sind der Meinung: Das ist ein fairer Deal. Theresa May hat eine Mehrheit. Wir können mit einem fairen Deal zum Brexit in dieser Woche zu Ende kommen. Also, liebe Frau May, handeln Sie!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Und das, was Sie hier erzählen, ist völliger Unsinn, und zwar aus einem ganz einfachen Grund.

(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das ist ja ein bisschen aus der Geschichte, Herr Schulz!)

– Mit der Geschichte haben Sie es nicht so, Herr Gauland.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Sie aber! – Jürgen Braun [AfD]: Der Historiker aus Würselen!)

– Ihr Name ist auch Programm. Sie heißen Braun, glaube ich.

(Zurufe von der AfD: Oh! – Jürgen Braun [AfD]: Ihr Niveau steigt!)

Ihr Geschichtsverständnis – das haben wir gerade wieder gehört – hat einen einzigen Tenor und das ist der, den ich auch Frau Merkel mit auf den Weg nach Brüssel geben möchte, wenn es um die Migration geht – ich wiederhole das –: die permanente Wiederholung der Hetze gegen Minderheiten, die permanente Wiederholung der Hetze gegen Migranten, das permanente Reduzieren des Dramas, das hinter dem Dritten Reich und dem Niedergang der Weimarer Republik stand. Das ist Ihre Rhetorik in diesem Hause; permanent, in jeder Rede. Es ist Schluss damit, dass die Leute sich das von Ihnen bieten lassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da können Sie noch so viele beleidigende Zwischenrufe machen. Die Migration bleibt. Natürlich brauchen wir eine Sicherung der Außengrenze in der Europäischen Union. Ja, klar brauchen wir Frontex, aber wir brauchen auch eine Reform von Dublin und eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge. Wir werden nicht jeden Flüchtling in Europa aufnehmen können – das stimmt –, aber wir schauen nicht tatenlos zu, wie das Mittelmeer zum Massengrab verkommt und Sie in Zynismus darüber lachen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir brauchen in Europa Pragmatismus und humanitäre Verantwortung gleichermaßen. Das sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Die Kombination aus moralischer Verantwortung und realem pragmatischem Handeln hat Europa immer ausgezeichnet. Ich hoffe, der Europäische Rat handelt in dieser Kombination.

Was hier die ganze Zeit diskutiert wird, liebe Kolleginnen und Kollegen, verkennt doch eines: Wir leben in einem Epochenbruch. Die Welt verändert sich rabiat und rasant – ja. Und die Feinde der Demokratie, diejenigen, die die plurale Gesellschaft negieren, die die Instrumente der Diffamierung und des Herabwürdigens jeder anderen Meinung zum strategischen Ziel erhoben haben, sitzen nicht nur im Weißen Haus und brechen jede Moral international. Sie sitzen auch in diesem Haus.

(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Ausgerechnet Sie, Herr Schulz!)

Den Geist der 250 000 Menschen, die am Wochenende hier in Berlin auf die Straße für die Unteilbarkeit der Werte unserer Verfassung gegangen sind,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

brauchen wir, wenn es darum geht, Europa nach vorne zu bringen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich hätte mir gewünscht, dass diese 250 000 Menschen, die hier demonstriert haben, und die Zehntausende in den anderen Städten die gleiche mediale Aufmerksamkeit gehabt hätten wie die 5 000 – Ihre Anhänger und die Pegida-Schreihälse – sie in Chemnitz bekommen haben.

(Fabian Jacobi [AfD]: Das hätten wir uns gewünscht, dass mal jemand geguckt hätte, wer da so mitläuft bei Ihnen! Die ganzen Extremisten!)

Denn diese Menschen repräsentieren 81 Prozent, von denen Frau Göring-Eckardt gesprochen hat, die hinter diesem Projekt stehen, hinter einem Projekt, das defizitär sein mag, das unvollendet sein mag, aber das drei wesentliche Ziele für unsere Kinder und deren Kinder verfolgen muss:

(Martin Hebner [AfD]: Und Kindeskinder!)

eine nachhaltige Entwicklung der Umwelt, damit wir unsere Luft noch atmen können – unsere Kinder und deren Kinder auch –,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Martin Hebner [AfD]: Und Kindeskinder!)

die Verteidigung der individuellen, unveräußerlichen Grundrechte des Menschen – das Folterverbot, das Willkürverbot, die Garantie des Instanzenzuges vor Gericht, die Abschaffung der Todesstrafe –, die Werte, für die Europa steht: ökologisch, die individuellen Grundwerte, die sozialen Grundrechte in Europa, dass wir ein Streikrecht haben, dass wir Versammlungsfreiheit haben, dass wir Pressefreiheit haben. Das alles gibt es in dieser Form nur auf einem Teil des Planeten: in der Europäischen Union.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ja, ich weiß, die Gegner Europas wollen das abschaffen. Aber die Menschen, die hier auf die Straße gehen, wollen das nicht. Die wollen diese Werte verteidigen, und sie wollen diese Union verteidigen. Nein, Europa ist nicht die Europäische Union; da haben Sie wohl recht. Aber die Europäische Union ist das Beste, was Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs begegnet und passiert ist,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Martin Hebner [AfD]: So ein Schwachsinn!)

und dafür gilt es doch, auf diesem Europäischen Rat zu kämpfen.

Frau Merkel ist ja jetzt schon weg; Sie musste Ihren Flieger nehmen. Ich hätte ihr das gerne gesagt, sage es dann aber dem Vizekanzler: Wir haben einen Koalitionsvertrag geschrieben mit der Überschrift: „Ein neuer Aufbruch für Europa“ und „Eine neue Dynamik für Deutschland“ – ökologisch, ökonomisch, sozial, politisch. In der internationalen multilateralen Welt wird es eine neue Dynamik für Deutschland nur dann geben, wenn es einen neuen Aufbruch für Europa gibt.

Wir haben jetzt monatelang erlebt, dass sich auch dieses Haus mit anderen Dingen befassen muss und noch der letzte quersitzende Gedanke in irgendeiner Provinz dieses Landes wichtiger war als der Aufbruch in Europa. Deshalb erwarte ich von diesem Europäischen Rat, meine Damen und Herren, dass er seiner Verantwortung nachkommt, den Hetzern, die auch im Rat sitzen, ihre Grenzen aufzuzeigen

(Lachen des Abg. Dr. Alexander Gauland [AfD])

und eine Schlussfolgerung zu ziehen, die wir dringend brauchen. Jede handelnde Politikergeneration hat eine oberste Pflicht, nämlich sich die Frage zu stellen: Können unsere Kinder und deren Kinder

(Martin Hebner [AfD]: Und Kindeskinder!)

damit rechnen, dass sie in der gleichen Wohlstandssicherung, in der gleichen individuellen Freiheit und in der gleichen Umwelt, die lebenswert ist, leben können, wie wir das gekonnt haben? Wenn wir eine Antwort auf diese Frage, die nämlich global ist, geben wollen, dann ist es nicht die Renationalisierung, sondern die gemeinsame europäische Anstrengung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nächster Redner ist der Kollege Alexander Ulrich, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

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