Carsten Sieling - Vereinbarte Debatte: Gleichwertige Lebensverhältnisse
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Schaffung vergleichbarer Chancen für alle Menschen in unserem Land gehört zweifelsohne zu den großen Aufgaben unserer Zeit; denn das Versprechen, für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet zu sorgen, wie es im Grundgesetz heißt, ist seit langem brüchig geworden.
Bei der Bereitstellung von moderner Infrastruktur, medizinischer Versorgung, guten Schulen, Kindergärten oder auch kulturellen Angeboten stoßen wir in der gesamten Republik auf zum Teil erhebliche Unterschiede. Diese Unterschiede sind für die Menschen nirgendwo so spürbar wie in den Kommunen und Städten, und sie haben Folgen – für die Teilhabe, den Zusammenhalt und die Demokratie vor Ort. Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die gerechte Verteilung von Ressourcen und Möglichkeiten für alle in Deutschland lebenden Menschen mit der Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse ein wichtiges Thema wird, was es seit langem ist.
Der entscheidende Punkt ist: Diese Ungleichheiten drücken sich regional aus; aber zu lösen sind sie nur gesamtgesellschaftlich.
(Beifall bei der SPD – Andrea Nahles [SPD]: Richtig!)
Ich will das an drei Beispielen konkret machen.
Deutschland ist ein reiches Land. Im Bereich der sogenannten Daseinsvorsorge passiert viel, gar keine Frage. Gleichzeitig kann aber niemand ernsthaft abstreiten, dass dieses reiche Land, Deutschland, ein Problem mit Kinderarmut hat. 21 Prozent aller Kinder in Deutschland leben dauerhaft oder wiederkehrend in sogenannten Armutslagen. Knapp 2 Millionen Kinder leben in sogenannten Hartz‑IV-Haushalten.
Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Entscheidend ist aber: Kinderarmut ist regional sehr ungleich verteilt und berührt damit ganz unmittelbar die Frage nach gleichwertigen Lebensverhältnissen. Wir brauchen hier weitergehende Antworten als in den vergangenen Jahren; denn die Situation der Kinder hat sich mit den bekannten Instrumenten nicht verbessert, sondern – im Gegenteil – leider verschlechtert. Ich begrüße deshalb ausdrücklich, dass sich die Arbeits- und Sozialministerkonferenz genauso wie die Jugendministerkonferenz die Aufgabe gestellt hat, beim Thema „Grundsicherung für Kinder“ zu neuen Antworten zu kommen. Das ist auch eine Aufgabe dieser Kommission.
(Beifall bei der SPD)
Entscheidend für die Gleichwertigkeit – damit bin ich beim zweiten Punkt – ist am Ende aber die Teilhabe an Erwerbsarbeit, natürlich bei auskömmlicher Bezahlung; denn wer arbeitet, soll ohne aufstockende Hilfen damit auskommen können. Aber auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind regional außerordentlich ungleich verteilt. Hohe Langzeitarbeitslosigkeit und verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit gerade in großstädtischen Regionen und im Osten unserer Republik sind ein riesiges Problem. Darum ist es richtig, die Stärkung des sozialen Arbeitsmarktes zu befördern. Ich bin froh, dass das Teilhabechancengesetz jetzt auf den Weg gebracht wird, und freue mich, dass es in der Koalition gelungen ist, den Lohnkostenzuschuss am Tariflohn zu orientieren. Das ist ein großer Schritt voran.
(Beifall bei der SPD)
Für die Kommission wird es nun darauf ankommen, die Arbeitsmarktpolitik und die Daseinsvorsorge miteinander zu verknüpfen. Wir müssen erreichen, dass es zu unterstützenden Interventionen in den Familien kommt, die von dieser Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind. Da müssen unterschiedliche Rechtssysteme zusammengebracht werden. So etwas kann, glaube ich, nur in einer solchen Kommission gelingen.
(Beifall bei der SPD)
Der letzte konkrete Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft das Thema Bildungspolitik. Gerade hat sich hier ein Abgeordneter der FDP zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Bildung geäußert. Ich will ihn gerne ein bisschen an die Wirklichkeit heranführen.
(Lachen bei Abgeordneten der FDP – Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Und das aus Bremen!)
Gerade in Großstädten erleben wir, dass sich die soziale Ausgangslage bei vielen Kindern deutlich verschärft hat. Es gibt Kindergartengruppen und Schulklassen, in denen der Anteil von Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache bei weit über 50 Prozent liegt. Das bedeutet, dass hier eine ungleich größere Kraftanstrengung nötig ist, mehr sozialpädagogischer Förderbedarf, mehr Sprachförderung und vieles andere auch. Das, meine Damen und Herren, ist eine nationale Daueraufgabe von Bund, Ländern und Kommunen.
(Beifall bei der SPD)
Es ist gut, dass wir das Gute-Kita-Gesetz haben. Aber dafür brauchen wir auch den Ausbau der Ganztagsschule mit der Förderung durch den Bund.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Handlungsspielräume vor Ort sind weiter zu stärken; das muss das Ziel dieser Kommission sein. Der Solidarpakt für den Osten läuft aus, die Schuldenbremse wird greifen, eine neue Phase der EU-Förderpolitik steht bevor. All das muss genutzt werden. Diese Kommission kann eine Chance sein. Lassen Sie uns das gemeinsam auf allen Ebenen angehen und nutzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD)
Vielen Dank, Herr Bürgermeister. – Nächster Redner ist Gerald Ullrich für die FDP.
(Beifall bei der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7288612 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 60 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte: Gleichwertige Lebensverhältnisse |