Helge LindhSPD - Einstufung als sichere Herkunftsstaaten
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ist der heute in erster Lesung eingebrachte Gesetzentwurf der abschließende Schritt in Fragen der Steuerung und Ordnung in der Migrationspolitik? Nein. Ist das der entscheidende, abschließende Schritt, mit dem wir sicherstellen, dass Menschen, die keinen Anspruch und letztlich keine Chance auf Schutz haben, gewiss nicht hierherkommen? Nein. Das müssen wir feststellen, wenn wir ehrlich sind. Ist das jetzt ein Grund, aufzutrumpfen oder Genugtuung zu empfinden oder euphorisch zu sein, weil uns das gelingt? Nein. Ist es aber andererseits, wie suggeriert wird, die Abschaffung des individuellen Anspruchs auf Asyl? Nein, gewiss ist es das auch nicht.
Ich plädiere da für viel Ehrlichkeit; denn es ist – wir wissen es genau – ein hochemotionales, hochkontroverses Thema. Wir sehen es an den Kräfteverhältnissen im Bundesrat. Wir sehen es innerhalb der Fraktionen, auch innerhalb derjenigen, die diesen Gesetzentwurf wahrscheinlich mehrheitlich ablehnen werden. Ich selbst habe es im Zusammenhang mit meinem politischen Förderer erlebt, der in den 1990er-Jahren aktiv war, als wir das Asylrecht reformiert haben und im Zuge dessen das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten eingeführt wurde. Er rang damit und wurde Mitglied der SPD. Wir sprechen also über ein kontroverses Thema. Dass es kontrovers ist, ist nicht das Problem. Die Frage ist aber, wie wir darüber miteinander sprechen und was wir einander vorwerfen.
Im Kern geht es – so denke ich, und so sehen wir es – darum, dass wir ein Signal an diejenigen aussenden, die de facto keinen Anspruch und keine Chance haben, hier als Asylbewerber, als Flüchtlinge anerkannt zu werden, die sich aber immer noch in ebendieser Hoffnung hierherbewegen. Wir sind davon überzeugt, dass es nicht Sinn einer Asylpolitik sein kann, Menschen diese Hoffnung zu machen. Das ist eine Illusion, und es ist aus unserer Sicht nicht verantwortungsbewusst, diese Hoffnung zu nähren.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)
Vielmehr ist es sinnvoll, in einem Gesamtpaket ohne Scheuklappen und ohne Isolation dieses zu betrachten. Damit ist der Schritt heute, diese vier Länder zu sicheren Herkunftsländern zu machen, gleichzeitig sinnvollerweise damit verbunden, die Gesamtkonzeption von Migrationspolitik zu denken und auch die Frage des Einwanderungslandes und eines Einwanderungsgesetzes als höchst virulent und aktuell zu begreifen.
(Beifall bei der SPD)
Ich denke, wir bewegen uns hier nicht als Technokraten der Migration – das ist in diesem Fall auch gut –, sondern wir sollten uns die betroffenen Menschengruppen anschauen. Das sind mindestens vier, wenn nicht fünf. Da sind zum einen – es wurde eben angesprochen – diejenigen, die tatsächlich Verfolgung erfahren, die schutzbedürftig sind. Unsere Aufgabe ist es, im Rahmen dieser Gesetzgebung sicherzustellen, dass diejenigen hier tatsächlich Schutz finden; denn Ziel dieser Gesetzgebung ist es nicht – das war auch nicht so in anderen Fällen der Deklaration als sichere Herkunftsstaaten –, die Anerkennungsquote zu senken. Das ist nachweislich nicht der Fall. Aber wir haben zu gewährleisten – das ist nachweislich Aufgabe des BAMF und des Bundesinnenministeriums –, dass die vereinbarte spezielle Rechtsberatung für besonders vulnerable Gruppen Realität wird. Das BAMF muss liefern, und wir erwarten, dass es liefert.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Die zweite Gruppe, die unsere Beachtung verdient, sind diejenigen aus diesen Ländern, die – deshalb enthält dieser Gesetzentwurf eine Stichtagsregelung – hier schon erwerbstätig sind, die eine Ausbildung durchlaufen oder die einen solchen Vertrag bis zum Stichtag abgeschlossen haben. Es wäre ja irrsinnig, diesen nicht die Möglichkeit zu geben, als Integrierte in den Arbeitsmarkt, als in Ausbildung Integrierte dieses Land nicht wieder verlassen zu müssen. Das berücksichtigen wir in diesem Gesetzentwurf.
Eine dritte Gruppe ist zu beachten – sie ist heute nicht das Thema –; aber ich glaube, für einen gesamtheitlichen Blick sollten wir darauf achten. Es gibt schon seit Jahrzehnten viele Menschen aus diesen Ländern in Deutschland, besonders Marokkaner, aber nicht nur diese. Sie haben aber in der Vergangenheit nicht wirklich Angebote von Integrationspolitik von uns erfahren. Wir sollten in dem Gesamtzusammenhang auch sie nicht aus dem Blick verlieren.
Dazu kommt eine vierte Gruppe. Es kann nicht sein – wie ich versuche zu erläutern –, dass wir diejenigen, die in den genannten Ländern wirtschaftlich, akademisch, beruflich keine Perspektive haben, über das Asylrecht hierherholen. Das kann für uns keine Antwort und keine Lösung sein. Weil das so ist, ist aber unsere Verantwortung diejenige, ihnen in ihren Ländern Perspektiven zu eröffnen. Wir sollten schauen, mit welchen Instrumentarien es eben nicht dauerhaft Massenarbeitslosigkeit von gut ausgebildeten Tunesierinnen und Tunesiern gibt. Das eine funktioniert nicht ohne das andere.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Polat? – Ich sehe, dass Sie es zulassen.
Ja, selbstverständlich.
Sehr geehrter Herr Präsident! Jetzt bin ich etwas irritiert. Ich wusste nicht, dass die SPD sich von einem Einwanderungsgesetz verabschiedet hat, das schon im Verfahren ist und das durchaus legale Einreisewege für genau die Gruppe, die Sie gerade genannt haben, vorsieht: Die Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus Marokko, die den Wunsch haben, nach Deutschland zu kommen, sollen durch das Gesetz jenseits des Asylgesetzes die Möglichkeit dazu bekommen. Oder habe ich das jetzt falsch verstanden?
(Zurufe von der SPD: Ja! Falsch!)
Frau Polat, Sie haben es falsch verstanden und selbst gerade die Antwort gegeben. Deshalb wies ich ja darauf hin, dass gerade für diejenigen, die nicht über das Nadelöhr der Asylpolitik hierherkommen, es Sinn macht, dass wir Einwanderungspolitik machen.
(Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben gesagt, die sollen dableiben!)
– Frau Polat, es ist eine etwas simple Wahrnehmung, das eine gegen das andere auszuspielen. – Ich glaube, der Sinn eines Einwanderungsgesetzes kann doch nicht sein, dass alle Tunesierinnen und Tunesier, die das Land Tunesien schätzen und es aufbauen, nach Deutschland kommen und diesem Land fehlen. Es ist ein Sowohl-als-auch.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Es ist doch nicht ein Entweder-oder. Diejenigen, die hier arbeiten wollen, werden in einer bestimmten Größenordnung die Möglichkeit dazu haben. Sie werden dauerhaft oder zeitweilig hier bleiben, und sie werden die Menschen in ihrem Land unterstützen. Gleichwohl muss es doch auch unser Interesse sein, dass ganz viele Akademikerinnen und Akademiker die Demokratie und die Wirtschaft in Tunesien aufbauen, dass sie nicht hierherkommen, sondern in ihrem Land Perspektiven haben. Alles andere ist aus meiner Sicht verantwortungslos.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ich wollte noch eine fünfte Gruppe nennen. Die fünfte Gruppe sind diejenigen, die hier eben keine Perspektive haben und nicht unter die Schutzberechtigten fallen. Unsere Verantwortung ist es auch, bei diesem Verfahren mit der Vermutungsregelung und mit dem Kriterium „offensichtlich unbegründet“ dafür zu sorgen, dass die Betroffenen nicht als Wirtschaftsflüchtlinge diffamiert werden. Ihr Begehren passt nicht in das Asylsystem, aber es ist nachvollziehbar. Wahrscheinlich würden wir uns in ähnlichen Situationen nicht anders verhalten. Genauso ist es mit Georgiern, die teilweise über Schlepperbanden, teilweise über organisierte Kriminalität, teilweise über Menschenhandel hierhergelangen. Es gibt keinen Grund, sie als die Schuldigen darzustellen, aber es ist deutlich zu machen, dass wir die Wege schließen, aufgrund derer sie in Kriminalität geraten.
Erlauben Sie mir abschließend, die letzten Minuten nutzend, noch etwas Grundsätzliches zu sagen. Diese Veränderung, die teilweise, wie wir eben erlebt haben, hochemotional diskutiert wird, ist ein Anlass, auch einmal Bilanz in Fragen der gesamten Migrations- und Asylpolitik zu ziehen, die wir erleben. Nach jeder Debatte, in der ich hier diskutieren darf, bekomme ich im Regelfall zig Posts, Briefe und Ähnliches, die mich als „zu ausländerfreundlich“ diffamieren, die mir – Highlight der letzten Wochen – ankündigen, man solle mich „an der nächsten Laterne aufhängen“ oder mir „den Kopf abschlagen“. Ich bekomme in geringerer Zahl und auch nicht mit Morddrohungen, was ich schätze, von anderer Seite den Vorwurf, Regelungen wie diese seien Verrat, seien Mord, seien ein Verlassen des humanitären Bodens der Bundesrepublik. Ich glaube, diese Zuspitzung der Debatte tut uns allen und tut diesem Land nicht gut, und wir müssen sie dringend verlassen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)
Es kann nicht weiter sein, dass wir Auseinandersetzungen über soziale Fragen, über zentrale Identitätsfragen dieses Landes allein auf dem Boden der Migrations- und Asylpolitik austragen. Es wird dieses Land auseinanderjagen. Es kann nicht funktionieren. Deshalb leite ich daraus klare Aufträge ab. Diese Vorlage, dieser Gesetzentwurf ist ein Baustein. Später heute werden wir noch einen anderen beraten. Wir können ihn aber nicht ohne Integrationspolitik denken. Das ist auch mein Appell an das Bundesinnenministerium, an Herrn Seehofer, an Herrn Mayer: Sie haben verkündet, Sie wollen Integration betreiben; machen Sie es! Liefern Sie auch in diesem Bereich! Denken Sie beides zusammen! Denken Sie, dass diejenigen, die hier sind, auch Angebote von uns brauchen und wir nicht in den Kategorien „Grenzen zu“, „Augen zu“, „abschieben, fertig“ denken können. Nein, das kann nicht funktionieren. Das ist zudem auch ziemlich unpolitisch.
Ebenso ziemlich unpolitisch ist es aber auch, zu denken, dieses Thema würde keinen bewegen und wäre nicht mit Unsicherheiten verbunden; wir könnten weitermachen wie bisher. Nein, wir müssen zur Kenntnis nehmen, so mein Eindruck, dass ein großer Teil der Bevölkerung dieses Landes Asylrecht will, gleichzeitig aber Unsicherheit, Verängstigung, Unklarheit empfindet, weil Unzufriedenheit herrscht – da müssen wir uns auch an die eigene Nase fassen – mit dem Migrationsmanagement der letzten Jahre. Das war nicht optimal. Das ist uns nicht gelungen. Es ist der Auftrag, zu begreifen, dies besser zu machen.
Letzten Endes ganz unpolitisch ist es aber, nicht nur „Grenzen zu“ zu wollen, sondern – das erleben wir jedes Mal, das haben wir heute auch wieder gehört – die Politik der Integration und des Asyls zu nutzen, Stimmung auf Kosten von Flüchtlingen zu machen, ob sie nun als Wirtschaftsflüchtlinge oder eben Kriminelle verunglimpft werden.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Das ist das Ende der Politik. Deshalb appelliere ich an uns alle: Bringen wir Nüchternheit und Sachlichkeit in dieses Thema! Wagen wir einfach mehr Politik bei der Migration!
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Überhaupt nicht zum Thema!)
Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Als Nächstes spricht zu uns die Kollegin Linda Teuteberg, FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7289145 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 61 |
Tagesordnungspunkt | Einstufung als sichere Herkunftsstaaten |