08.11.2018 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 61 / Tagesordnungspunkt 10

Sabine ZimmermannDIE LINKE - Änderung des SGB II - Teilhabechancengesetz

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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wissen Sie, wenn ich Ihnen so zuhöre, dann frage ich mich manchmal: Wie weit weg sind Sie von der Realität?

(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Das frage ich mich bei Ihnen auch!)

Kennen Sie eigentlich die Lebenslagen von langzeiterwerbslosen Menschen?

(Katja Mast [SPD]: Ja, kennen wir!)

Kennen Sie die?

(Katja Mast [SPD]: Ja!)

Herr Whittaker, Sie kommen mir gerade recht, muss ich Ihnen sagen.

(Lachen bei der CDU/CSU – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Ich habe immer recht!)

Bei der ersten Lesung – ich hoffe, Sie können sich daran erinnern; wenn nicht, helfe ich Ihnen mal auf die Sprünge – sagten Sie:

Gerade heute war zu lesen, dass 469 000 SGB-II-Bezieher seit dem 1. Januar 2005 im System sind. Wir nennen sie manchmal etwas despektierlich „Gründungsmitglieder“.

Also wissen Sie, ich muss Ihnen ehrlich sagen: „Despektierlich“ heißt den nötigen Respekt vermissen lassen. So sprechen Sie über Langzeiterwerbslose. Sie sollten sich dafür wirklich schämen; das muss ich Ihnen so deutlich sagen.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wenn dann noch Minister Heil zu den Arbeitsmarktzahlen und einer gesunkenen Arbeitslosenquote sagt, darauf könne Deutschland stolz sein, dann muss ich Sie fragen, Herr Heil: Worauf bitte? Worauf wollen Sie stolz sein? Millionen Beschäftigte können von ihrer Arbeit nicht leben.

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Whittaker?

Ja, gerne.

Dann halte ich die Redezeit an.

Herr Whittaker.

Frau Kollegin, weil Sie mich auf dieses Zitat angesprochen haben: Sind Sie bereit, anzuerkennen, dass das Wort „Gründungsmitglieder“ nicht ein Wort ist, das ich erfunden habe, sondern das in sämtlichen Fachgesprächen, die es unter uns SGB-II-Politikern gibt, ganz bekannt ist? Es heißt deshalb „despektierlich“, weil ich es auch nicht gut finde. So habe ich es gemeint, nicht so, dass ich SGB-II-Empfängern in irgendeiner Form ans Schienbein treten will. Sind Sie bereit, anzuerkennen, dass Sie hier gerade versuchen, eine falsche Intention in die Debatte zu bringen?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Whittaker, ich kann Ihnen ganz deutlich sagen, was hier steht:

Wir nennen sie manchmal etwas despektierlich „Gründungsmitglieder“.

Das steht hier im Protokoll, lesen Sie es bitte nach. Es heißt „wir“, das sind Sie und niemand anderes. Deswegen finde ich es schon sehr unangemessen, Menschen so zu bezeichnen.

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das sind Fake News, was Sie hier verbreiten! Unverschämtheit!)

Ich bin jetzt beim Herrn Heil. Worauf bitte wollen Sie stolz sein? Millionen Beschäftigte können von ihrer Arbeit nicht leben. Sie erhalten ergänzend Hartz IV oder gehen einem Zweit- oder Drittjob nach. Ich denke, Sie kennen die Zahlen: 3,4 Millionen Menschen. Das ist schon sehr viel. Jeder dritte Erwerbslose ist länger als ein Jahr ohne Arbeit. Von den Langzeiterwerbslosen, die ihre Arbeitslosigkeit beenden können, schafft nur jeder achte den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt.

Frau Kollegin, gestatten Sie bitte eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Weiß? Es hält ihn kaum auf den Sitzen.

Ach, Herr Weiß, Sie hatten vorhin schon Ihren Auftritt. Ich glaube, das reicht.

(Torbjörn Kartes [CDU/CSU]: Das ist auch despektierlich!)

Erwerbslose Menschen in Deutschland sind im EU-weiten Vergleich am stärksten von Armut bedroht. Das Armutsrisiko liegt bei 70 Prozent. Egal ob mit Arbeit oder ohne Arbeit: Für viele Menschen in unserem Land sind die Aussichten und die Arbeits- und Lebensbedingungen schlecht. Darauf kann man einfach nicht stolz sein, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Menschen brauchen gute Arbeit, Arbeit, von der sie leben können. Davon gibt es zu wenig. Viel zu viele erwerbslose Menschen werden aufs Abstellgleis geschoben oder im Hartz-IV-System gedemütigt. Darauf, Herr Heil, kann man nicht stolz sein; das muss ich Ihnen auch so deutlich sagen. Das ist nämlich ein Schlag ins Gesicht.

Die Linke fordert schon seit 20 Jahren einen sozialen Arbeitsmarkt. Unsere guten Anträge haben Sie leider immer wieder abgelehnt. Nun endlich wollen Sie einen sozialen Arbeitsmarkt einrichten. Aber ich glaube, dieses Teilhabechancengesetz der Bundesregierung bleibt nur eine Alibipolitik und schafft eben keine Teilhabe auf dem ersten Arbeitsmarkt, Herr Weiß. Sechs Jahre Hartz-IV-Bezug als Voraussetzung grenzt den Großteil aus. Sechs Jahre – das muss man sich mal vorstellen! – müssen Sie langzeiterwerbslos sein, um in den sozialen Arbeitsmarkt zu kommen. Sie machen hier Menschen Hoffnungen, die Sie einfach nicht erfüllen. Die Jobcenter sind finanziell immer noch zu schlecht ausgestattet. Die zusätzlichen Mittel sind nicht zweckgebunden. Somit ist zu befürchten, dass viele Jobcenter die Gelder anderweitig verwenden, zum Beispiel für den Verwaltungsetat.

Besonders unverständlich ist auch, dass beim Teilhabeinstrument keine Beiträge für die Arbeitslosenversicherung vorgesehen sind. Somit handelt es sich um Beschäftigte zweiter Klasse. Das werden wir nicht hinnehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie bleiben vor allem in Ihrem Sanktionsdenken verhaftet. Auch das neue Instrument ist nicht freiwillig, sondern Erwerbslose können wieder zugewiesen werden. Wann verstehen Sie endlich, dass Zwangsmaßnahmen kein Instrument für eine gute Arbeitsmarktpolitik sind? Die Linke fordert die Abschaffung der Sanktionen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich komme zum Schluss. Dass es bessere Konzepte gibt, zeigt unser Antrag heute. Sie können ihm zustimmen. Wir haben auch einen Änderungsantrag zu Ihrem Gesetzentwurf. Wenn Sie unserem Antrag nicht zustimmen können, Herr Heil, dann können Sie vielleicht unserem Kompromissvorschlag zustimmen. Das würde vor allen Dingen Ihren schlechten Gesetzentwurf wesentlich verbessern.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke das Wort.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will darauf hinweisen, dass ich die Kurzintervention des Kollegen Weiß, um die er gebeten hat, nicht zulasse, weil Sie, Herr Whittaker, noch reden und die Möglichkeit haben, klarzustellen, was missverständlich geschildert worden ist.

(Heiterkeit bei der SPD)

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Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7289404
Wahlperiode 19
Sitzung 61
Tagesordnungspunkt Änderung des SGB II - Teilhabechancengesetz
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