Christian LindnerFDP - Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Diese Debatte hier heute markiert eine Zäsur. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben angekündigt, nicht mehr für das Amt der Bundesvorsitzenden Ihrer Partei zu kandidieren.
(Beifall des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])
Aus diesem Grund ist diese Debatte eine danach – nach dieser Entscheidung. Wir sehen es in den internationalen Medien: Es beginnt jetzt bereits die Betrachtung Ihrer gesamten Amtszeit, Ihres politischen Lebenswerks.
(Norbert Kleinwächter [AfD]: Eine sehr schlechte Bilanz! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die ist ja noch nicht zu Ende!)
Das werden dereinst Historiker abschließend betrachten. Aber es verändert trotzdem die Art und Weise der Auseinandersetzung mit Ihnen und Ihrer Regierung.
(Zurufe von der CDU/CSU)
Man hat es auch Ihrem Beitrag heute bereits angemerkt.
(Zuruf von der CDU/CSU: Was ist denn das für ein Niveau?)
– Das ist doch die Realität, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich glaube, noch habe ich nur in der Sache beschrieben.
Nicht nur Sie, Frau Bundeskanzlerin, sondern auch der Bundesminister des Innern hat angekündigt, nicht mehr für den Vorsitz seiner Partei zur Verfügung zu stehen.
(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Gute Entscheidung! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber Sie bleiben doch, oder?)
Das hat natürlich Auswirkungen auf die Regierung. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wird nämlich kein Vorsitzender einer der Koalitionsparteien dem Kabinett angehören.
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja, Sie nicht!)
Das zeigt eines: Wenn Parteien so auf Distanz zu ihrer eigenen Regierung gehen, dann stehen wir nicht am Anfang von etwas, sondern wir werden Zeuge des Endes von etwas.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sind wir doch schon lange!)
Das kann ja auch befreiend wirken. Frau Bundeskanzlerin, wir haben gehört, wie Sie in Straßburg vor dem Europäischen Parlament gesprochen haben. Und wir haben das begrüßt. Denn: Es trat eine Angela Merkel auf, die Visionen beschrieben hat. Wir unterstützen Sie, wenn Sie die Vision einer wirklichen europäischen Armee für sich selbst reklamieren. Auf uns können Sie in dieser Frage bauen.
(Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Jürgen Braun [AfD])
Wir wünschen uns jetzt konkrete Maßnahmen und Schritte. Was führt uns dahin? Das ist ja eine der Fragen, in der wir dringend mehr europäische Gemeinsamkeit wollen.
(Zuruf des Abg. Armin-Paulus Hampel [AfD])
In unserem Land und in diesem Parlament gibt es ja einige, die glauben, deutsche Interessen zu vertreten, wenn sie nur auf nationale Antworten setzen. Machen wir uns bitte gemeinsam klar: Es gibt eine Konfliktlinie in unserem Land, weil es Menschen gibt, die von Offenheit, von Vielfalt, von Digitalisierung, Globalisierung und Migration, den Verschiebungen auf der Weltbühne
(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Nicht viel halten!)
vor allen Dingen Einschränkungen ihres eigenen Lebens erwarten. Hier gibt es Leute, die sagen: Die Antwort auf diese Angst ist, dass wir uns im Nationalstaat verschanzen. – Die Wahrheit ist: Auf diese großen Herausforderungen kann man nur antworten mit gemeinsamer Außen-, gemeinsamer Sicherheitspolitik, gemeinsamer Handelspolitik, gemeinsamen Strategien für einen digitalen Binnenmarkt.
(Norbert Kleinwächter [AfD]: Nein! – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was ist mit der Währung?)
Bei diesen Fragen ist nicht offen, ob wir das europäisch gemeinsam machen, da ist nur offen, wann wir endlich zu europäischer Gemeinsamkeit in diesen Fragen finden.
(Beifall bei der FDP – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was ist mit der Währung? – Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben aufgegriffen, dass die französische En-Marche-Bewegung und die ALDE in vielen Fragen zusammenarbeiten. Wir sind aber nicht deckungsgleich. Ich hoffe, sagen zu können, dass die deutschen Liberalen Herrn Macron näherstehen als Ihre Partei Herrn Orban. Trotzdem sind wir nicht deckungsgleich.
Wir sehen doch, welche Entwicklung es in Italien gibt, wo eine links- und rechtspopulistische Regierung fahrlässig die Fiskalregeln brechen will und ihren eigenen privaten Bankensektor in Turbulenzen bringen wird. In einer solchen Phase ist es falsch, über die Vergemeinschaftung von Risiken und Finanzen zu sprechen. In einer solchen Phase muss die finanzpolitische Eigenverantwortung eines jeden Mitglieds der Währungsunion betont werden.
(Beifall bei der FDP)
Das ist genau die falsche Prioritätensetzung.
(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Sie haben ja mal recht, Herr Lindner!)
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben über das Wachstum gesprochen. Genau an diesem Punkt muss man Zweifel an Ihrem Beitrag heute bekommen. Denn wir wissen: Das Wachstum, die Dynamik in Deutschland stehen eben nicht mehr so zur Verfügung wie über ganz weite Teile Ihrer bisherigen Amtszeit. Der Bundesfinanzminister hat es gestern dargetan: Wir können nicht sicher sein, dass es in der Wirtschaft tatsächlich so weitergeht wie bisher, dass die Staatseinnahmen weiter so prosperieren, dass wir uns auf Rekordbeschäftigung stützen können. – All das sind keine Garantien. Deshalb ist es nun notwendig, dass wir die politischen Konsequenzen ziehen und dass wir wieder stärker in den Blick nehmen, wie wir auch zukünftig unsere Wettbewerbsfähigkeit behaupten. Bei Ihrer Aufzählung des Handelns Ihrer Regierung stelle ich mit Blick in den Etat nicht fest, dass sich diese neue wirtschaftliche Realität tatsächlich in den Prioritäten abbilden würde: Baukindergeld, Mütterrente, Brückenteilzeit und, und, und – alles überwiegend konsumtive Ausgaben. Sie setzen keine Impulse dafür, den Etat zukünftig zu finanzieren; Sie schaffen Ansprüche, die den Etat zukünftig strangulieren werden, Frau Bundeskanzlerin. Das ist mit Blick auf die weitere Entwicklung gefährlich.
(Beifall bei der FDP)
Sie reden inzwischen anders, als Sie handeln: Sie selbst wollen den Solidaritätszuschlag abschaffen – so äußert sich auch der Bundeswirtschaftsminister –; zwei der Bewerber für den CDU-Vorsitz fordern eine Unternehmensteuerreform, in den Papieren der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Sommerklausur war das ebenfalls enthalten. Fortwährend hören wir also in der Tat: „Das steuerpolitische Umfeld hat sich verändert, Bürgerinnen und Bürger und Betriebe müssen entlastet werden“, was wir aber nur finden, ist zusätzliche Belastung, wie beispielsweise bei der Parität bei der gesetzlichen Krankenversicherung.
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Sehr gut! Entlastung der Arbeitnehmer! – Johannes Kahrs [SPD]. Was haben Sie denn gegen Arbeitnehmer in diesem Land?)
Sie handeln anders, als Sie reden. Aber wer den Mund spitzt, der muss irgendwann auch pfeifen, Frau Bundeskanzlerin, sonst verliert man Glaubwürdigkeit.
(Beifall bei der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Denken Sie auch mal an Arbeitnehmer!)
Es geht ja noch weiter. Nach der Rente mit 63, durch die qualifizierte Fachkräfte, die wir dringend brauchen, vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden, wird über ein allgemeines Pflichtjahr gesprochen. Die Sozialdemokraten wollen sich dadurch beliebt machen, dass alle Beschäftigten einmal im Jahr einen Monat auf Kosten des Staates bezahlten Urlaub bekommen können. Bündnis 90/Die Grünen führen eine Debatte über eine Garantiesicherung, für die mal eben mir nichts, dir nichts die Steuern um 30 Milliarden Euro erhöht werden sollen – nicht um in Bildung zu investieren, sondern um das Geld denjenigen zu geben, die nicht arbeiten wollen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unverschämtheit!)
Mit einer solchen Politik würde man unser Land vorsätzlich beschädigen.
(Beifall bei der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Schämen Sie sich!)
– Nein, ich schäme mich überhaupt nicht; denn das ist etwas, was auch Sie verstehen müssen.
Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wir sind solidarisch mit Menschen, die bedürftig sind und die Hilfe brauchen; das ist unser Sozialstaatsgebot. Zur Solidarität gehört aber auch das individuelle Bemühen, soziale Leistungen nur so lange und so weit in Anspruch zu nehmen, wie es wirklich notwendig ist.
(Beifall bei der FDP – Zuruf der Abg. Ulli Nissen [SPD])
Wer anderes verspricht, behandelt die Menschen nicht fair.
Dabei begrüßen wir ja die von Frau Nahles und Herrn Habeck angestoßene Debatte über eine Reform von Hartz IV. Nur bitte machen wir das System da, wo es gut ist, nicht schlecht; es hat uns ja aus der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit an vielen Stellen herausgeführt. Das wäre doch ein Grund auch zum Stolz für Bündnis 90/Die Grünen und die Sozialdemokratie auf diese Sozialstaatsreform. Nicht jede Regierung hat solche grundlegenden Weichenstellungen zustande gebracht.
(Johannes Kahrs [SPD]: Ihr schon mal gar nicht! Sie haben gar nicht gekonnt! Sie haben sich gedrückt! Sie hätten regieren können! Sie wollten aber nicht!)
Was wir jetzt aber notwendigerweise tun müssen, ist, an den Stellen zu arbeiten, wo das System nicht funktioniert. Es ist zu bürokratisch; deshalb kann man stärker pauschalieren. Es gibt viel zu wenige Betreuerinnen und Betreuer für die Menschen, die Angebote brauchen, um wieder in Arbeit oder Ausbildung zu kommen. Und vor allen Dingen ist dieses System zutiefst unfair; denn vom Zuverdienst beispielsweise durch einen Minijob bleibt den Menschen zu wenig. Es muss aber gelten, dass derjenige, der mehr arbeitet, auch am Monatsende mehr Einkommen zur Verfügung hat.
(Beifall bei der FDP)
Sonst ist ein System nicht gerecht. An diesen konkreten Punkten ist zu arbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Bundeskanzlerin hat über die Migrationspolitik gesprochen. Ich unterstreiche, was Sie, Frau Bundeskanzlerin, zum Migrationspakt der Vereinten Nationen gesagt haben. Machen wir uns aber bitte klar, dass dieses Vorhaben zutiefst umstritten ist. Natürlich ist an dem Pakt nicht alles so formuliert, wie wir es alleine hier im Deutschen Bundestag beschließen würden;
(Beatrix von Storch [AfD]: Gar nichts!)
aber es ist besser, diesen Pakt zu haben, als ihn nicht zu haben.
Wenn ich die öffentliche Debatte sehe, habe ich aber eine Befürchtung: TTIP – wir wären heute, nach Trump, froh, wenn wir klare Regeln für den Welthandel und den transatlantischen Handel hätten – ist von der politischen Linken durch Desinformation kaputtgemacht worden. Das darf sich jetzt beim UN-Migrationspakt, diesmal von der politisch rechten Seite, nicht wiederholen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Andrea Nahles [SPD])
Ich frage mich in dieser Debatte: Was macht eigentlich der Bundesaußenminister in dieser Frage?
(Beifall bei der FDP)
Er müsste doch der Erste sein, der für solche internationalen Fragen in Deutschland Öffentlichkeit schafft.
(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Wo er recht hat, hat er recht!)
Unser eigenes Recht muss ebenfalls weltoffener werden. Das gilt auch für das, was Sie als Fachkräftezuwanderungsregelung vorgelegt haben. Unser Einwanderungsrecht muss mit Blick auf den Spurwechsel pragmatischer werden, und es muss kontrollierender und steuernder werden, insbesondere bei der Abschiebung von Illegalen.
(Beifall bei der FDP)
Bevor wir wie Frau Kramp-Karrenbauer darüber nachdenken, nach Syrien abzuschieben, sollten wir erst einmal erreichen, dass Menschen in die Maghreb-Staaten zurückgeführt werden können. Das würde näherliegen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben über die Digitalstrategie und in dem Zusammenhang auch über die Infrastruktur gesprochen. Wir sind in dieser Frage, was die Ziele angeht, an Ihrer Seite, aber wir haben Zweifel an dem Weg, den Sie beschreiten wollen. Die Ausschreibungsbestimmungen von Minister Scheuer überzeugen uns gegenwärtig noch nicht.
Wir wollen ein flächendeckendes Netz. Wir wollen es schnell. Wir wollen die Lücken bei 4G schließen, und wir wollen Glasfaserausbau und Mobilfunk der fünften Generation zusammendenken. Das wird nicht funktionieren: gleichzeitig Einnahmen zu maximieren und diese Form der Daseinsvorsorge zu erreichen.
(Nadine Schön [CDU/CSU]: Das wollen wir gar nicht!)
Wir haben doch historische Erfahrungen. Hans Eichel wollte maximale Einnahmen bei den UMTS-Lizenzen, ohne maximale Netzabdeckung zu fordern. Dafür haben wir bis heute einen hohen Preis zu zahlen. Wir sollten es deshalb für die Zukunft genau umgekehrt machen, als Hans Eichel es damals beschlossen hat.
(Beifall bei der FDP – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das waren 100 Milliarden Euro Einnahmen! Das war nicht schlecht!)
– Ja, Herr Schneider, es waren 100 Milliarden Euro Einnahmen, aber der volkswirtschaftliche Schaden durch Funklöcher und zu schmales Breitbandnetz in der Fläche übersteigt bei weitem den Nutzen der öffentlichen Einnahmen von Hans Eichel damals – mit ganz großer Sicherheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Freund Otto Fricke hat heute Geburtstag.
(Beifall)
Deshalb will ich mit einem letzten Gedanken schließen: 2018 ist ein verlorenes Jahr
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das kann man doch bei seinem Geburtstag hier nicht sagen!)
– bei der Wettbewerbsfähigkeit, bei der Bildung, der Digitalisierung, beim Klimaschutz, bei der Dieselproblematik, der Einwanderung und Europa. Frau Bundeskanzlerin und Herr Seehofer, Sie beide haben erkannt, dass Ihre Parteien Erneuerung brauchen. Was für Parteien richtig ist, das kann für das Land, das kann für die Bundesrepublik Deutschland nicht falsch sein. Deshalb hoffen wir auf das neue Jahr.
(Beifall bei der FDP)
Jetzt hat das Wort die Vorsitzende der SPD-Fraktion, Andrea Nahles.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
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Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 64 |
Tagesordnungspunkt | Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt |