21.11.2018 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 64 / Tagesordnungspunkt I.9

Ralph BrinkhausCDU/CSU - Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zu einigen Vorrednern bin ich der Meinung, dass es diesem Land richtig gut geht

(Beifall bei der CDU/CSU)

und dass wir uns einmal die Zeit nehmen sollten, das auszusprechen. Natürlich ist nicht alles gut. Natürlich kann man noch vieles besser machen. Aber wer die politische Auseinandersetzung darauf reduziert, uns immer zu erzählen, was noch schlecht läuft, der soll mir einfach mal sagen: Wann und wo ist es denn besser als hier? Das ist doch die eigentliche Frage.

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das sagen wir Ihnen doch andauernd! – Jürgen Braun [AfD]: Migrationspakt zum Beispiel! Dieselfahrverbote!)

Natürlich ist es auch so – das ist nicht ganz unrichtig –, dass die Menschen unruhig sind. Die Menschen sind nicht nur unruhig, sondern es ist auch so, dass wir eine verhängnisvolle Entwicklung haben, insbesondere in den letzten Jahren: dass nämlich der Zusammenhalt in der Gesellschaft schwindet, dass wir uns granulieren, dass wir nicht mehr miteinander reden, sondern übereinander reden, dass wir unsere eigenen Positionen moralisch überhöhen, dass wir die Dialogfähigkeit verloren haben und dass das, was die Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten getragen hat, der gesamtgesellschaftliche Konsens, bröckelt.

Ich denke, dass das unsere große Aufgabe sein wird. Herr Hofreiter, Sie haben die großen Fragen angesprochen. Die große Frage wird der Zusammenhalt in dieser Gesellschaft in den nächsten Jahren sein.

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

Es lohnt sich, in dieser Generaldebatte, in der ja die langen Linien gezogen werden, sich einige Gedanken darüber zu machen, wie man diese Frage beantwortet.

Fangen wir mit einem ersten Punkt an. Ich war auf einer Veranstaltung; dort stand eine Frau auf, die sehr empört war und sagte: Ich bin eine ganz normale Arbeitnehmerin; ich bringe morgens meine Kinder zur Schule und hole sie nachmittags ab. Wer interessiert sich eigentlich noch für uns? Werde ich eigentlich noch gesehen? – Ich glaube, meine Damen und Herren, wenn wir das Land zusammenhalten wollen, müssen wir wieder beginnen, die Gesellschaft von der Mitte her zu denken. Denn die Mitte hält dieses Land zusammen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der AfD)

Das tun wir im Übrigen auch im Haushalt, nicht indem wir auf 10 000 Metern Flughöhe die ganz großen Fragen diskutieren und beantworten, sondern indem wir konkret etwas tun: indem wir Familien entlasten, indem wir das Baukindergeld und das Gute-Kita-Gesetz auf den Weg bringen, indem wir was für die Digitalisierung in den Schulen und für die Pflege tun. Das bedeutet, Politik von der Mitte her zu denken, ohne die Ränder auf der anderen Seite in irgendeiner Art und Weise zu vernachlässigen.

Zweiter Gedanke. Warum sind Staaten eigentlich mal gegründet worden? Was ist der Ursprung? Der Ursprung ist: Die Menschen wollten Sicherheit, und zwar Sicherheit nach außen und Sicherheit nach innen.

Ich war vor einigen Wochen bei der Bundeswehr und gestern bei der Bundespolizei. Ich habe dort hochmotivierte Truppen gesehen: Menschen, die mit viel Herzblut dafür kämpfen, dass die innere und äußere Sicherheit in diesem Land erhalten bleiben. Diese Menschen haben es verdient, dass sie zusätzliche Kollegen bekommen – was wir mit diesem Haushalt tun; Frau Nahles hat darauf hingewiesen –, aber auch zusätzliche Sachmittel, und dass sie vor allen Dingen eines bekommen, und das gilt insbesondere für unsere Polizistinnen und Polizisten: Wertschätzung für das, was sie tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber das reicht nicht; es geht noch einen Schritt weiter. Wir haben als Union gesagt: Wir wollen den Pakt für den Rechtsstaat, weil die Menschen zu Recht erwarten, dass dieses Recht nicht nur von der Polizei geschützt wird, sondern dass, wenn es gebrochen wird, dies auch bestraft wird. Wir brauchen mehr Staatsanwälte. Wir brauchen mehr Richter. Wir brauchen übrigens auch mehr Rechtspfleger und Verwaltungsmitarbeiter in den Gerichten. Das ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern. Das gehen wir an. Wir brauchen die Digitalisierung der Justizverwaltung und eine bessere Verknüpfung mit unseren Polizeibehörden. Auch da sind wir schon dabei; das gehen wir an.

Wir brauchen aber auch eine bessere Strafprozessordnung. Wir brauchen ein besseres Prozessrecht. Wir müssen schneller werden, wir müssen konsequenter werden, und wir brauchen vor allen Dingen mehr Verständnis und Zuwendung für die Opfer von Verbrechen. Das alles gehört zum Pakt für den Rechtsstaat,

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie regieren doch!)

weil es ein staatliches Kernanliegen sein muss, die Bürgerinnen und Bürger zu schützen.

Genau das Gleiche gilt auch für die Bundeswehr, die mehr Mittel bekommt. Denn Sicherheit ist nicht nur im Inneren, sondern auch im Äußeren wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Braun [AfD]: Wer regiert denn dieses Land?)

Mein nächster Gedanke. Wir werden gemeinhin ein bisschen verspottet, weil wir so viel Geld für Soziales ausgeben, Herr Lindner. Aber Soziales hat auch etwas mit dem Zusammenhalt der Gesellschaft zu tun. Denn die Menschen haben eine Erwartung an den Staat: Wenn es mir schlecht geht, wenn ich krank bin, Pflege brauche, arbeitslos oder alt bin, dann brauche ich bei aller Eigenverantwortung – für die meine Partei steht – auch die Solidarität der anderen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Achim Post [Minden] [SPD])

Wenn dieses Versprechen nicht mehr eingehalten wird, dann brauchen wir nicht über den Zusammenhalt der Gesellschaft zu reden. Dann reden wir nur noch über uns. Ich glaube nicht, dass der Satz „Jeder kehre vor seiner eigenen Tür, und dann wird alles gut“ richtig ist, sondern zum Zusammenhalt der Gesellschaft gehört Solidarität. Auch das ist in diesem Haushalt abgebildet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen gehört bei allem Respekt davor, dass wir viel investieren, und bei aller Eigenverantwortung – das ist alles richtig – auch die soziale Komponente dazu. Das ist überhaupt keine Frage.

Aber was die Menschen, glaube ich, am meisten beunruhigt, ist die Frage: Wie geht es eigentlich weiter? Die Bundeskanzlerin hat es angesprochen: Wir haben die Digitalisierung, die künstliche Intelligenz und viele andere Herausforderungen zu bewältigen.

Ich bin übrigens der Meinung, dass wir in vielen Diskussionen zu vielen Themen leider oft rückwärtsgewandt und kleinteilig sind. Da haben Sie recht, Herr Hofreiter. Ich glaube, die künstliche Intelligenz wird unser Leben mehr verändern als niedrigere oder höhere Steuern, neue Straßen und vieles andere, was uns zu Recht sehr wichtig ist.

Auf diese Zukunftsfragen müssen wir Antworten geben. Das tun wir auch. Das erste Thema ist Bildung. Jetzt reden wir nicht über die Bildung in den Ländern. Es gibt eine weitere Komponente, wo wir noch viel mehr tun müssen und an der unsere Bildungsministerin schon arbeitet. Das ist nämlich der Punkt Weiterbildung. Wenn ich eine Schulklasse zu Besuch habe, dann sage ich ihnen immer: Ihr werdet euren Beruf fünf- oder sechsmal neu erlernen müssen. – Wir haben in Deutschland ein Bildungssystem, das auf die klassische Erstausbildung ausgerichtet ist, auf Ausbildung, Studium, Schule. Wir müssen auch Strukturen bereitstellen für die Weiterbildung. Das ist eine ganz wichtige Frage für die Zukunft.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Da haben wir die ersten Grundstöcke gelegt. Das muss auch weitergehen.

Es geht nicht nur um Bildung, sondern auch um Innovation, das zweite Thema. Ich weiß nicht, ob Ihnen klar ist, wie viel Geld alleine China in künstliche Intelligenz investiert. Das ist ein dreistelliger Milliardenbetrag.

(Dr. Marcus Faber [FDP]: Und im Bundeshaushalt?)

– Wir haben auch im Bundeshaushalt Mittel dafür eingestellt. – Jetzt kommt die eigentliche Antwort: Wir haben nur eine Chance, in dieser Technologie- und Innovationswelt zu bestehen, wenn wir das gemeinsam europäisch machen. Es reicht nicht, wenn wir das alleine machen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

All denjenigen, die sagen: „Europa ist etwas Schlechtes“, sage ich: Europa ist die Antwort darauf, dass wir innovativ und technologisch vorne bleiben.

(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Ein sehr gutes Argument, Herr Brinkhaus! – Norbert Kleinwächter [AfD]: Europa ist ein Kontinent!)

– Hier wird gerade gerufen: „Europa ist ein Kontinent!“ Nein, Europa ist mehr. Europa ist eine Wertegemeinschaft! Europa ist ein Friedensprojekt! Europa ist ein Wirtschaftsprojekt! Wer Europa auf einen Kontinent reduziert, hat nichts, aber auch gar nichts verstanden!

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Herr Hofreiter, ich gebe Ihnen recht. Die Umweltpolitik, die wir in den vergangenen Jahren gemacht haben, war sehr eindimensional und nicht ausreichend. Ich kann Ihnen auch sagen, warum. Weil wir Umweltpolitik auf zwei Dinge reduziert haben: auf Verbote und regenerative Energien. Ich finde, dass regenerative Energien gut sind. Aber das war eine Monostruktur, die wir geschaffen haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir glauben daran, dass wir Umweltpolitik nicht mit Verboten voranbringen, sondern mit Anreizen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Thomas Jurk [SPD])

Unser Anspruch ist, Technologie und Umwelt miteinander zu versöhnen; denn das Ganze passt zusammen und kann ein Erfolgsmodell für die Bundesrepublik Deutschland und natürlich für Europa werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Jetzt komme ich zum Thema Europa; das war gerade der Cliffhanger und Spoiler zu Europa. Wenn wir den Menschen sagen wollen, dass sie eine Zukunft haben, dass sie in dieser Welt, die irgendwo immer mehr aus den Fugen gerät, sicher sein können, dann werden wir das nur gemeinsam europäisch hinbekommen.

(Zurufe von der AfD: Nein! Nein! – Gegenrufe von der CDU/CSU: Doch! Doch!)

– Das ist auch wieder interessant. Von der rechten Seite kommt – ich wiederhole für diejenigen, die das nicht hören konnten –: Nein, das geht nicht europäisch. – Es ist schön, dass wir diesen Unterschied haben. Wir glauben nämlich daran, dass wir das europäisch gemeinsam besser hinbekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir glauben im Übrigen auch an eine andere Sache. Bei der Rede der Bundeskanzlerin wurde zugerufen: Wir sind für Deutschland verantwortlich. – Nein, unser christliches Menschenbild, unser Menschenbild, das wir haben, wenn wir keine Christen sind, bedeutet, dass die Würde der Menschen überall auf der Welt gleich ist.

(Jürgen Braun [AfD]: Größenwahn!)

Wer sich in der Politik auf Deutschland beschränkt, ist nicht an unserer Seite; denn wir glauben, dass das Ganze weitergeht. Wir haben eine Verantwortung für alle, die wir, soweit es uns möglich ist, auch übernehmen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN – Zurufe von der AfD)

Eine andere Sache ist aber auch richtig. Wir müssen über die Zukunft reden. Wir müssen über das Versprechen reden, dass jeder, wenn er in eine Krise kommt, wenn er schwach ist, die Möglichkeit hat, dass ihm geholfen wird.

(Beatrix von Storch [AfD]: Die ganze Welt!)

Wir müssen darüber reden, dass wir die Mitte sehen. Wir müssen über die Sicherheit reden. Wir müssen aber auch darüber reden, wie wir miteinander umgehen. Wenn wir als Politikerinnen und Politiker – da brauche ich nicht mit dem Finger auf jemanden zu zeigen; ich sage das ganz selbstkritisch auch in meine Richtung – die Streitkultur, die wir in den letzten Jahren hier gehabt haben, fortführen, wenn wir weiter in der Sprache verrohen, wenn wir weiter in der Art und Weise verrohen, wie wir miteinander umgehen, wie wir miteinander sprechen, wenn wir uns nicht gegenseitig mehr respektieren, weil wir andere Argumente haben, wenn wir dieses Vorbild geben, dann brauchen wir uns auch nicht zu wundern, wenn sich die Gesellschaft genauso entwickelt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Stephan Protschka [AfD])

Deswegen sollten wir uns alle vornehmen, respektvoll und achtsam miteinander umzugehen. Wir sollten als demokratische Parteien das Miteinander pflegen. Wir sollten vor allen Dingen den Menschen in diesem Land zeigen, dass die parlamentarische Demokratie, wie sie seit 1949 in diesem Land besteht, ein ganz großer Schatz ist, den es sich lohnt zu hüten.

Danke schön.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der SPD)

Nächster Redner ist der Vorsitzende der AfD-Fraktion, Dr. Alexander Gauland.

(Beifall bei der AfD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7293020
Wahlperiode 19
Sitzung 64
Tagesordnungspunkt Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt
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