21.11.2018 | Deutscher Bundestag / 19. EP / Session 64 / Tagesordnungspunkt I.9

Katrin BuddeSPD - Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Kultur ist Gesellschaftspolitik. Kultur ist Spiegel ihrer Zeit und im Idealfall Vordenkerin. Kultur ist Teil der Generaldebatte. Das ist gut so, und das ist auch genau richtig so.

Kultur in Deutschland reicht vom Dreckschweinfest im Mansfelder Land über Industriekultur, Oktoberfest, Bach, Goethe, Bauhaus bis Bayreuth und Wacken. Kultur in Deutschland hat riesengroße regionale Unterschiede, unterschiedliche traditionelle Wurzeln, aber auch große gemeinsame Dichter, Denker, Vorfahren und Bewegungen. Mancher Begriff, der heute wieder vermehrt verwendet wird, gaukelt uns etwas vor und wird gezielt eingesetzt, um Stimmung zu machen. Ein solcher Begriff ist die Kulturnation. Dieser Begriff stand immer und wurde immer genutzt für Innerlichkeit, Weltabgewandtheit, Lagerdenken und vermeintliche gefühlsmäßige Tiefe, für Ab- und Ausgrenzung, aber nicht für Freiheit der Kunst und der Kultur, nicht für Solidarität und nicht für Gerechtigkeit. Das muss Kulturpolitik heute umso mehr berücksichtigen, damit Sie und damit wir alle nicht in eine falsche Richtung laufen und gucken, nämlich rückwärtsgewandt. Das darf nicht sein.

Der Haushalt, der uns vorliegt, berücksichtigt diese Aufgabe auf vielfältige Art und Weise in den Einzel­etats – denn Kultur ist Querschnittsaufgabe –, aber auch im Haushalt der BKM. In einem demokratischen Staat ist Kulturpolitik deshalb keine Sache von oben, jedenfalls nicht so, wie wir sie verstehen. Sie ist ein Teil unserer Gesellschaft und deshalb partizipatorisch, sie ist Teil der Zivilgesellschaft, und sie darf nicht zum Spielball des Föderalismus werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das hat die SPD erkannt und deshalb den BKM vor 20 Jahren ins Leben gerufen. 20 Jahre – feiern wir den Geburtstag! Das ist gut. Kooperativer Kulturföderalismus hat sich in den Jahren entwickelt, bildet sich im Haushalt ab, mit ganz vielen Programmen und zunehmend mit Programmen, die in die Fläche gehen.

Der nächste große Schritt wäre dann allerdings: Kultur muss in die Verfassung: Aufheben des Kooperationsverbots nicht bloß bei der Bildung, sondern auch bei der Kultur,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

nicht nur Brosamen, sondern gemeinsame Verantwortung, Daseinsvorsorge, eben Kultur für alle! So vielfältig Kultur ist, so sehr braucht sie Förderung auf allen Ebenen.

Deutschland hat eine reiche Kulturlandschaft, in Stein und ideell – viele Zukunftsthemen sind von Deutschland aus befördert worden –, und sie hat auch Tradition. Aber Tradition ist eben nur ein Teil der Kultur. Zukunftsgestaltung, neue Akzente setzen, Wertewandel, das sind weitaus größere Ziele und Aufgaben.

(Beifall bei der SPD)

Wertewandel, das ist auch so ein Begriff, der heute wieder von einer gesellschaftlichen Strömung benutzt wird und mit dem versucht wird, Angst zu machen. Wehren wir uns dagegen! Vor allen Dingen, meine Damen hier im Haus, wehren wir uns dagegen! Ohne Wertewandel säßen wir nicht hier. Wir brauchen den Wertewandel.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie mich eine Frage stellen: Ist Deutschland als ein Land mit reicher Kultur und Geschichte und sind seine Bürgerinnen und Bürger, sind wir immun gegen Verführung und Nationalismus übelster Art? Nein, sind wir nicht. Die 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts haben das gezeigt, und in vielen kulturreichen Nationen um uns herum und auch bei uns in Deutschland zeigt es sich auch heute. Der kulturelle Firnis der Gesellschaft ist allzu oft sehr dünn.

Die Freiheit und die Möglichkeit, Kultur als Zukunftsmotor zu verstehen, müssen immer wieder verteidigt werden. Genauso wie die Demokratie nur vom Mitmachen lebt, lebt auch Kultur nur vom Mitmachen und vom Blick nach vorn.

Haben wir, die wir im Deutschen Bundestag sitzen, eine gemeinsame Kulturgeschichte? Jein. Wir haben Jahrzehnte gemeinsamer, aber auch Jahrzehnte trennender Kulturgeschichte. Deutschland verdankt seinen Kulturreichtum der Kleinstaaterei.

Ich will als Ostdeutsche hier etwas sagen, was weiter westlich Geborenen wahrscheinlich falsch ausgelegt würde, wenn sie es sagen würden: 12 Jahre Nazidiktatur und im Anschluss 45 Jahre sogenannte Arbeiter-und-Bauern-Diktatur haben ganze Generationen in einer antiwestlichen und antiliberalen Stimmung erzogen. Dort war gelebte Realität, was einige heute wieder fordern: dass Kultur identitätsstiftend sein sollte und war, indem der Staat bestimmt, was Identität ist und war.

Ein kleiner Erklärungsversuch: Woher kommt diese aggressive Ostalgie bei der selbsternannten Alternative? Herr Gauland, ich habe ein Zitat von Ihnen gefunden: In der DDR habe sich „ein altes Stück Deutschland erhalten, viel eigenständiger und traditioneller als in der westlich gefirnisten alten Bundesrepublik“. – Wohl wahr, da hatte sich etwas erhalten: Zensur von Theater und Kabarett. „ Was Kunst ist, bestimmen wir.“ Das hat der Verband Bildender Künstler meinem Vater gesagt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Fahnenappelle. Denunziationen. – Erkennen Sie das Muster heute wieder?

(Beifall bei der SPD – Zuruf)

– Nein, das war gelebte Realität – in der habe ich gelebt –, und das will ich nie wieder haben.

(Karsten Hilse [AfD]: Das will niemand!)

Das ist nicht billige Polemik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren Abgeordnete, Kulturpolitik heißt nicht Vorgaben machen, sondern Möglichkeiten eröffnen. Unter „Möglichkeiten eröffnen“ gehört unter anderem die Gleichstellung dazu, und die ist – das ist meine Kritik an diesem Haushalt insgesamt und auch an dem der BKM – sehr unterrepräsentiert: 79 Prozent der Expertinnen in TV-Informationen sind männlich. 90 Prozent Männerquote bei Regie, Kamera und Produktion. Das Rollenbild der Frau im Fernsehen entwickelt sich zurück. Deutschland ist Spitzenreiter bei sexualisierten Darstellungen von Mädchen und Frauen.

(Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])

Das muss sich ändern, meine Damen und Herren. Darauf müssen wir in den nächsten Jahren einen Schwerpunkt legen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Da fünf Minuten nur die Möglichkeit geben, das Thema anzureißen: Lassen Sie uns die eigentliche Debatte in der Gesellschaft führen! Ich freue mich darauf.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Doris Achelwilm für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

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Electoral Period 19
Session 64
Agenda Item Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt
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