Helge LindhSPD - Vereinbarte Debatte Organspende
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Wörter beschäftigen mich die ganze Zeit, wenn ich über die heutige Diskussion nachdenke. Das eine Wort ist „Grenze“ oder „Schwelle“, lateinisch „limen“, Liminalität. Wir sprechen in diesem Hause sehr oft – ich glaube, zu oft – über Grenzen, dies ist aber eine Diskussion, in der man über Grenzen und die Verschiebung von Grenzen durchaus sprechen sollte. Das Zweite ist der Ruf eines Und-dennoch. Das kommt mir immer wieder in den Sinn. Eigentlich bin ich versucht, der Widerspruchslösung, auch der erweiterten, zuzustimmen, wenn ich die Zahlen derer sehe, die betroffen sind. Dennoch widerspreche ich dieser Widerspruchslösung.
Ich erlebe in meinem Umfeld konkret zwei Lebenssituationen: Menschen, die man womöglich, wenn die Ankündigungen stimmen, retten könnte oder mit einer entsprechend wirkungsvollen Widerspruchslösung hätte retten können. Ich ringe mit der Verantwortung, die ich trage, wenn ich dieser widerspreche. Dennoch tue ich das, weil ich denke: Ich muss es mir – ich kann nur für mich sprechen – nicht einfach, sondern besonders schwer machen, schwerstmöglich machen. Deshalb bin ich zum jetzigen Zeitpunkt – das sage ich nicht abschließend, sondern ich sage „zum jetzigen Zeitpunkt“ – nicht überzeugt von einer erweiterten Widerspruchslösung.
Ich glaube, es ist sinnvoll, nicht zu einfachen Kausalitäten zu folgen. Es wurde darauf hingewiesen, dass es keinen direkten Zusammenhang gibt zwischen der Zahl derjenigen, die einen Organspendeausweis haben, und der Zahl derjenigen, die spenden. Es gibt auch keine eindeutigen Zusammenhänge zwischen der Widerspruchslösung und der Zahl der Spenden. Es wurde auf Spanien hingewiesen und auch auf die Tatsache, dass dort de jure eine Widerspruchslösung gilt, aber in der Praxis, de facto, die Zustimmungslösung praktiziert wird.
Ich glaube, dass wir, um einen ethischen Kompass zu haben, in die Praxis der Situation hinein müssen, das heißt, dass wir uns auseinandersetzen müssen mit den Defiziten des klinischen Settings, der Situation unmittelbar vor Ort – das ist nicht zu ersetzen durch eine Debatte über Widerspruchslösung oder Entscheidungslösung –: Was spielt sich in den Krankenhäusern ab? Was gibt es für Strukturen? In welcher Situation sind die Transplantationsbeauftragten? Wie sind die finanziellen Bedingungen?
Aber auch das reicht nicht. Ich glaube, wir müssen unmittelbar ans Bett, in die Situation; denn die Transplantationsmedizin hat etwas verändert in uns allen, hat unseren Begriff des Todes und auch unsere Begriffe des Sterbens und des Lebens verändert. Ich denke, diese Veränderung ist gesellschaftlich von uns noch nicht vollzogen. Solange diese Veränderung von unserem Bewusstsein nicht vollzogen ist, bin ich skeptisch und bremsend hinsichtlich jeder Form einer erweiterten Widerspruchslösung.
Die Technologie macht Dinge möglich, die es vorher nicht gab. Das entlässt uns aber nicht aus der Verantwortung, diese Dinge auch ethisch nachzuvollziehen. Wir diskutieren hier regelmäßig über die Folgen von Digitalisierung, und wir fordern auch, dass man sozial und ethisch darauf Antworten findet. Aber dann müssen wir das erst recht in dieser Frage, in der Technologie fundamental in unsere Vorstellungen vom Leben eingreift. Das heißt nicht etwa, gegen Transplantationsmedizin zu sein, mitnichten – ich bin ein ganz deutlicher Befürworter –; aber es heißt, sich klarzumachen, dass wir einen Raum geschaffen haben, den es vorher so nicht gab, und dass wir uns sehr genau mit den Situationen auseinandersetzen, was es denn bedeutet, wenn es einerseits eine Patientenverfügung gibt und andererseits einen Organspendeausweis. Diese Situation ist jetzt schon Realität, jetzt schon sind Angehörige, sind Pflegekräfte, sind Ärzte und die Betroffenen konfrontiert, in diesen Situationen zu entscheiden.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Daher plädiere ich dafür, jetzt, in diesem Moment, die Wege einer Entscheidungslösung nachzuvollziehen, mit einer zunächst moralischen Verpflichtung, sich zu entscheiden und zu verhalten, ohne zu richten, wie jemand entschieden hat, und dies in dem Bewusstsein, dass womöglich in zwanzig oder dreißig Jahren wir, vielleicht ich selber, eine andere Entscheidung treffen werden, –
Herr Lindh, kommen Sie bitte zum Schluss.
– weil wir sehen, dass die Gesellschaft diesen Schritt vollzogen hat und bereit ist für eine Widerspruchslösung. Dies ist aber im jetzigen Moment nach meinem Verständnis nicht der Fall.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Nächster Redner: Rudolf Henke.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7296338 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 67 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte Organspende |