Helge LindhSPD - Globaler Pakt für Migration
Man hat schon Fans, aber leider auf der falschen Seite. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Genehmigung des Präsidiums beginne ich mit einem Gedicht von Nazım Hikmet – „Das Gespenst am Mittelmeer“ heißt es –:
Ich kenne ihn. Er flüchtete bei Aduva von der Front, floh wie ein Tier die Feuersbrunst flieht. Floh nicht für eine Idee nicht für ein Ideal noch für ein Recht. Flüchtete, um nicht zu sterben, um zu leben.
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das ist die SPD!)
Das war das einzige Papier, das ich heute für meine Rede brauche. Denn aus mir spricht das Herz, und da braucht man kein Manuskript.
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Der Verstand sollte sprechen!)
Das ist bei Ihnen und bei Herrn Curio anders: Da spricht der Hass, und da brauchen Sie Drehbücher.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn es nach dem Wahrheitsgehalt und der Logik Ihrer sogenannten Protokollerklärung ginge, dann wäre dieser Text hier ein verführerischer, böser Text, der zur Flucht durchs Mittelmeer auffordert. Wenn man ihn genau liest und genau zuhört, sieht man: Es ist ein Text des berühmten türkischen Dichters Hikmet, der Respekt vor einem Deserteur bekundet, der erschossen wurde.
Wenn es nach Ihnen und dem Geist, den Sie hier heute wieder zum Ausdruck bringen, ginge, dann dürfte es diesen Nazım Hikmet gar nicht geben. Er als Türke hatte Vorfahren aus Deutschland und aus Polen. Einer seiner Vorfahren war der osmanische General Mehmed Ali Pascha, geboren als Deutscher in Magdeburg, Preußen. Und es kommt noch schlimmer: Sein Urgroßvater war geboren in Frankreich und zog hierher als Hugenotte. All diese Personen gäbe es nicht, wenn Ihre Politik der Wirklichkeitsverweigerung gegenüber Migration Realität wäre.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Bernd Baumann [AfD]: So ein Blödsinn! Wie verrückt wird die SPD denn noch?)
Und noch mehr gäbe es nicht, wenn dieser Feldzug, dieser irre Feldzug gegen Migration erfolgreich wäre. Gestern Abend befand ich mich im Andachtsraum, unweit von hier, und betete als Christ und Sohn eines finnischen Vaters. Wenige Meter von mir betete ein muslimischer Mitarbeiter des Bundestages, dessen Eltern aus der Türkei hierhergekommen sind. Wir beide beteten, zwei Menschen unterschiedlicher Herkunft, zu einem Gott.
(Lachen bei der AfD)
Diese wunderbare Begegnung, wie ich finde, gäbe es nicht, wenn Ihr Geist nur eine Spur von Wahrheit und Richtigkeit hätte. Aber gut, dass es diesen Moment gegeben hat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vor einigen Tagen, am bundesweiten Vorlesetag, durfte ich einer Klasse von Schülern vorlesen. Ungefähr 50 bis 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler hatten – das ist die Realität in Deutschland und gut, dass es so ist – einen Migrationshintergrund. Ich habe sie bewusst aufgefordert, auch Texte in den Sprachen ihrer Eltern und Großeltern vorzulesen. Viele haben das gar nicht gewagt, weil sie deren Sprache gar nicht mehr beherrschen. Was war die Erkenntnis? Diejenigen, die die Sprache ihrer Eltern und Großeltern am besten beherrschten, sprachen auch am besten Deutsch. Und es war gut, dass es so war.
Die Schüler haben mir gesagt, dass sie sich freuen, dass wir uns im Rahmen des Global Compact offensiv mit solchen Fragen und mit Migration auseinandersetzen. Warum haben sie sich gefreut? Weil ihre Urgroßeltern, ihre Großmütter und ihre Großväter dieses Land als Gastarbeiter mit aufgebaut haben,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN – Zurufe von der AfD)
weil sie – anders als Sie – Verdienste um dieses Land haben, weil es nach den Jahren und Monaten der Verhetzung durch die AfD und andere endlich an der Zeit ist, deutlich zu machen, was Migrantinnen und Migranten in diesem Land aufgebaut und geleistet haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE])
Migrantinnen und Migranten sind in der Regel – das zeigen auch Studien – mutige Menschen. Sie lassen so viel hinter sich. Sie verlassen ihr Land. Sie wagen viel, um Perspektiven für sich und ihre Angehörigen zu schaffen. Sie gründen hier Unternehmen. Die Opfer der grauenvollen NSU-Morde zum Beispiel haben selber Unternehmen gegründet. Wenn Sie eine Spur des Mutes dieser Menschen hätten, dann hätte ich wieder Hoffnung in Sie, aber die haben Sie nicht.
(Armin-Paulus Hampel [AfD]: Seien Sie beruhigt, den haben wir!)
Ihre Anträge besagen nur eines: Es ist nicht Mut, es ist Feigheit, die daraus spricht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Es geht nur um das eigene gescheiterte Leben! – Jürgen Braun [AfD]: Gut, dass Sie so ein toller Hecht sind!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns Ihren Vorschlag einer Protokollerklärung ansehen und die ganze Argumentation verfolgen, wie wir sie gestern und heute erlebt haben, wie wir sie heute Nachmittag erleben werden, dann erinnert mich das an einen Ostpreußen, einen großen deutschen Denker, nämlich an Immanuel Kant und seine „Kritik der reinen Vernunft“ von 1781.
(Armin-Paulus Hampel [AfD]: Hören Sie mit Kant auf! – Jürgen Braun [AfD]: Der arme Kant kann sich nicht mehr wehren!)
Wenn es nach Ihrer Logik ginge, wäre damit die allgemeine Vernunft ausgebrochen. Wie wir an Ihnen sehen, ist das leider nicht der Fall.
Sehr geehrte Damen und Herren, ein Global Compact on Migration ist doch nicht die Ursache für Migration. Der Grund für Migration ist, dass Menschen Krieg, Armut oder Verfolgung erfahren
(Armin-Paulus Hampel [AfD]: Amen!)
oder dass sie einfach aus wirtschaftlichen Gründen Perspektiven suchen. Sie brauchen dafür keinen Global Compact.
Ein weiterer Grund für Migration ist aktuell übrigens, dass in diesem Land lebende Menschen mit Eltern zum Beispiel aus der Türkei dieses Land verlassen, weil sie nicht mehr ertragen können, wie Sie keinen Respekt vor ihnen, ihren Eltern und ihren Urgroßeltern zeigen. Traurig, dass das so ist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Hirnrissig!)
Aber das Ganze lenkt ohnehin nur ab; all Ihre Formalitäten, auf die Sie sich berufen, verdecken nur eines: Im Gegensatz zu uns, die wir sachlich über Migration sprechen wollen,
(Lachen bei der AfD – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das ist herrlich!)
sind Sie geradezu manisch besessen von diesem Thema. Bei jeder Frage kommen Sie mit Migration und Flüchtlingen. Sie sind auf dem Stoff „Migration“; das ist Ihre Droge. Wenn Sie diese Droge nicht mehr hätten, was täten Sie dann?
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der AfD – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Was täten wir dann? Dann hätten wir immer noch Sie, Herr Lindh, Sie und Ihre Politik!)
Das ist ein ganz einfacher Fall für Freuds Couch.
Die AfD betet doch jeden Tag darum, dass wir unbegrenzte Migration haben.
(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Wir brauchen gar nicht zu beten! Wir haben sie doch dank Ihrer Politik!)
Sie hoffen doch, dass Ausländer Verbrechen begehen, damit Sie damit Ihr Geschäftsmodell weiterbetreiben können. Das Spiel spielen wir aber nicht mit.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
Denken Sie bitte an die Redezeit.
(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Lassen Sie den weiterreden! Der redet sich um Kopf und Kragen! – Jürgen Braun [AfD]: Reden Sie 20 Minuten länger! Weiter so!)
Abschließend: Der eigentliche Grund ist gar nicht nur Ihr Geschäftsmodell. Offensichtlich – und da hilft uns auch Freud – ist es auch so, dass Sie Ihrer eigenen Identität, Ihres eigenen Deutschtums, Ihrer eigenen Herkunft so unsicher sind, dass Sie andere brauchen, um sich über sie negativ zu identifizieren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Traurig, dass das so ist, und gut, dass wir, dass alle anderen das nicht nötig haben.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank, Helge Lindh. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Olaf in der Beek.
(Beifall bei der FDP)
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Electoral Period | 19 |
Session | 69 |
Agenda Item | Globaler Pakt für Migration |