Wiebke EsdarSPD - Steuerentlastung
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zum Inhalt spreche, möchte ich noch einige Worte dazu verlieren, mit welchem Umgang mit dieser Debatte wir konfrontiert sind. Denn das Prozedere der letzten 24 Stunden im Zusammenhang mit dem, was Sie, die Kolleginnen und Kollegen auf der rechten Seite des Hauses, hier vorgelegt haben, halte ich für unkollegial und auch für schlampig gearbeitet, um das mal so deutlich zu sagen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir haben uns auf eine Debatte zur Einkommensteuer gefreut und eingestellt. Eigentlich wollten wir drei Anträge beraten – so war es seit längerem angekündigt –, aber gestern kam die erste Entblößung: Die AfD hat erkannt, dass ihr eigener Antrag so schlecht ist, dass sie ihm nicht einmal im Ausschuss zustimmen kann. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich finde das hochnotpeinlich.
(Beifall bei der SPD)
Ich will aber auch ehrlich sagen, dass das größere Ärgernis für mich der späte Zeitpunkt der Veröffentlichung der Anträge ist. Wir sind doch heute hier, um in der Kernzeit des Plenums des Deutschen Bundestages eine Debatte zu führen, die wir alle ernst nehmen sollen. Dazu, dass wir das ernst nehmen – ich denke, das erwarten auch die Wählerinnen und Wähler von uns –, gehört, dass wir uns gewissenhaft und sachgerecht darauf vorbereiten.
(Beifall bei der SPD)
Das ist bei einer so kurzen Vorlage nur schwer möglich.
Ihr Antrag von der AfD-Fraktion kam gestern Morgen. Ich frage mich, was da eigentlich so lange gedauert hat und warum Sie ihn so spät vorgelegt haben; denn der Text stammt zu 99 Prozent aus einer Vorlage des Bundes der Steuerzahler; lediglich zwei Sätze und eine Zahl haben Sie verändert. Das finde ich wirklich peinlich.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Der zweite Antrag, den wir jetzt beraten und der von der FDP-Fraktion immerhin selbst geschrieben ist, ist uns gestern Abend um 18 Uhr zugegangen. Auch das finde ich unangemessen. Ich finde, das ist zu spät. Wir hatten dann 16 Stunden über Nacht die Möglichkeit, uns damit auseinanderzusetzen, zu recherchieren und die Argumente abzuwägen.
Wenn Sie als einfache Oppositionsfraktion so arbeiten und möchten, dass wir großzügig mit dieser Art der Verfehlung umgehen, dann bitte ich darum, dass auch Sie dann, wenn wir in der Abstimmung mit der Regierung etwas länger brauchen, entsprechend großzügig sind; denn sonst wäre das mit zweierlei Maß gemessen.
(Beifall bei der SPD – Christian Dürr [FDP]: Deswegen kann da kein Minister sitzen?)
– Das hat überhaupt nichts damit zu tun.
(Christian Dürr [FDP]: Ach so! Ja, das sage ich ja gerade!)
Aber um zum Inhalt zu kommen: Fast jede Bürgerin und jeder Bürger führt von seinem erarbeiteten Einkommen Geld in Form von Steuern und Sozialabgaben ab. Wir finden, das ist grundsätzlich eine gute Sache; denn so lebt unsere Gesellschaft. So können wir Investitionen für die Allgemeinheit finanzieren. Es gibt in unserer Gesellschaft auch einen Grundkonsens darüber, dass Steuerprogression gewollt ist, dass also, ganz einfach gesprochen, starke Schultern mehr tragen als schwache. Der – zugegeben sperrige – Begriff der Steuerprogression ist schlicht und einfach gerecht; denn er bedeutet: Je höher das Einkommen ist, desto mehr Steuern werden bezahlt. Von jedem Euro, den ich mehr zahle, gebe ich anteilig mehr an den Staat, um für die Gesellschaft etwas finanzieren zu können. Das ist das Prinzip der Leistungsfähigkeit. Die Steuerprogression wurde übrigens nicht von irgendwelchen Sozialisten eingeführt, sondern von Matthias Erzberger, Mitglied der Zentrumspartei in der Weimarer Republik. – Das ist Konsens.
Streit und Diskussionen gibt es immer wieder darüber, welches die richtige Form der Progression ist. Man muss ehrlich sein, dass Teil der Geschichte auch ist, dass die Diskussion häufig immer wieder von Irrtümern, von Fehlberechnungen und schlichtweg auch von falschen Behauptungen – davon haben wir heute schon einige gehört – beeinflusst wird. Beispiele finden sich auch in den beiden vorliegenden Anträgen der FDP und der AfD. Aber ich sage Ihnen: Wir fallen nicht darauf rein. Wir werden mit Fakten argumentieren.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Die kalte Seite der Progression – um dies klar zu sagen – ist nicht im Sinne des Erfinders. Niemand will, dass die Inflation die Gehaltserhöhungen aufzehrt, das Gehalt dann in eine höhere Steuerklasse fällt und ein höherer Steuersatz bezahlt wird. Das ist ungerecht; darüber sind wir uns einig. Aber das Problem ist aktuell nicht in einem bedeutsamen Umfang vorhanden. Wenn die AfD behauptet, die kalte Progression wäre eine heimliche Form der Steuererhöhung, dann ist das schlichtweg falsch.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje Tillmann [CDU/CSU])
Fakt hingegen ist, meine Damen und Herren, dass es in den letzten Jahrzehnten bereits wiederholt Entlastungen bei der Einkommensteuer gegeben hat. Die Wirkungen der kalten Progression wurden immer kompensiert, in Teilen sogar überkompensiert. Zuletzt haben wir das in der Anhörung zum Familienentlastungsgesetz von Professor Achim Truger in seiner Stellungnahme gesagt bekommen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gottschalk, AfD?
Nein. – Die Bundesregierung stellt nämlich seit 2015 über den Steuerprogressionsbericht regelmäßig sicher, dass der Effekt der kalten Progression durch die Anhebung des steuerlichen Grundfreibetrags sowie die Verschiebung der Eckwerte des Einkommensteuertarifs nach rechts kompensiert wird – nicht automatisch, aber immer wieder regelmäßig.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das Problem der kalten Progression ist also bestenfalls überbewertet. Ein wirklicher Handlungsbedarf besteht nicht.
Meine Damen und Herren, das Ansinnen des FDP-Antrags, die Mittelschicht besserzustellen, ist im Grunde gar nicht falsch. Aber erstens verschweigen Sie, dass wir gerade letztes Jahr eine massive Entlastung in Höhe von rund 10 Milliarden Euro beschlossen haben. Zweitens warten Sie in Ihrem konkreten Antragstext wieder mit den wohlklingenden Worten „Chancentarif“ und „Agenda der Fleißigen“ auf. Das ist Anti-Steuerlobby-Sprech pur und passt nicht zu den Tatsachen, die dahinterstehen.
Ich möchte zwei kurze Beispiele nennen: Erstens wird wieder einmal die Behauptung aufgestellt, schon Durchschnittsverdiener zahlten in Deutschland den Spitzensteuersatz. Das ist falsch. Die FDP spielt an dieser Stelle wieder mit den Begrifflichkeiten des Grenz- und des Durchschnittssteuersatzes. In Wahrheit zahlt ein Single annäherungsweise erst ab einem Einkommen von über einer halben Million Euro tatsächlich den Spitzensteuersatz von 42 Prozent.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Mit einem solchen Einkommen ist man aber wahrlich kein Durchschnittsverdiener mehr.
(Christian Dürr [FDP]: Ich weiß ja nicht, welche Mathematik Sie hier zugrunde legen! Im Einkommensteuergesetz steht etwas anderes! – Sören Bartol [SPD], an die FDP gewandt: Das muss man Ihnen ja mal sagen, damit Sie es auch verstehen!)
Zweitens reden Sie davon, das Familienentlastungsgesetz habe die kalte Progression nur minimal ausgeglichen und die Regierung habe nur das verfassungsrechtlich Gebotene getan. Auch das ist falsch. Das Gutachten von Professor Truger – ich habe darauf verwiesen – hat das Gegenteil belegt.
Darum gilt, meine Damen und Herren, für unsere Politik: Wir behalten die Gesamtsituation im Blick. Wir tun auch etwas dafür, dass Familien entlastet werden. Aber es geht eben nicht nur darum, dass wir bei den Steuern entlasten, sondern dass wir in Deutschland beispielsweise auch gute und gut ausgestattete Kitas haben. Wir haben gerade 5 Milliarden Euro von Bundesseite eingesetzt, um in gute Qualität zu investieren. Diese Investition ist die Form von Entlastung, die wir für den Mittelstand brauchen. Das sind nämlich Investitionen in unsere Zukunft. Das sollten Sie mit im Blick haben. Wenn Sie dann noch so ehrlich sind, die vorhandenen Steuerentlastungen mitzuzählen, dann ist ziemlich klar, dass wir Ihren Antrag ablehnen müssen.
Danke schön.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Antje Tillmann [CDU/CSU])
Jetzt hat der Kollege Korte nach § 29 Absatz 1 unserer Geschäftsordnung um das Wort gebeten, um einen Antrag zur Geschäftsordnung zu stellen.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7325635 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 80 |
Tagesordnungspunkt | Steuerentlastung |