21.02.2019 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 83 / Tagesordnungspunkt 12

Helge LindhSPD - Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Jongen, Sie haben so unrecht, und in einem Punkt haben Sie recht. Sie haben so unrecht; denn wie können wir ausverkaufen, was uns zu großen Teilen gar nicht gehört?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist Ausverkauf von Raubgut. Und in einem Punkt – ich hätte nie gedacht, dass ich so was sagen würde – haben Sie recht. Sie sagten sinngemäß, es ginge nicht um eine Wertschätzung von Objekten. Tatsächlich: Nein, darum geht es nicht. In allererster Linie geht es um die Wertschätzung von Menschen und Opfern und ihren Nachgeborenen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt ja, uns allen mehr oder weniger bekannt, international den Aufruf: Let’s take back control! Wir kennen das aus dem Zusammenhang mit dem Brexit, von Trump und anderen. Mein Appell heute wäre der gegensätzliche Spruch als Anleitung für uns in dieser Debatte: Let’s give up control!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Very well! – Jürgen Braun [AfD]: Kontrollverlust! Das können Sie haben!)

Aufgabe von Kontrolle, das ist die nicht einfache Aufgabe, aber genau die steht im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus.

(Jürgen Braun [AfD]: Da sind Sie Spezialist!)

Denn wir alle wissen, dass Erinnerung eben nicht versklavend einengt, sondern dass Erinnerung gerade an eine solche Geschichte, die von Versklavung – Versklavung von Menschen, von Köpfen, von Ideen, von Identitäten – geprägt ist, befreit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Und wir merken auch – da ist die Große Anfrage der AfD der beste Beweis –, dass dieser Kolonialismus offensichtlich bis heute – das haben viele nicht gemerkt – eine schwere Traumatisierung inmitten unserer Gesellschaft hinterlassen hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie sprachen von Psychopolitik. Es gibt eine Anekdote von Freud. Ein Mann kommt zu Freud in die Praxis und sagt: Eines sage ich Ihnen gleich, ich habe keinen Mutterkomplex. – Die Pointe ist: Er hat natürlich einen Mutterkomplex. Ich will Ihnen jetzt nicht unterstellen, dass Sie einen Mutterkomplex haben, obwohl das vieles erklären würde.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Braun [AfD]: Das ist grandios!)

Aber zumindest haben Sie einen ausgeprägten kolonialen Komplex.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Denn Sie sind zutiefst geprägt, geradezu besessen von dieser Thematik. Genau das zeigt die Traumatisierung Ihrer selbst in dieser Frage.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Braun [AfD]: Sie reden dummes Zeug! Bekloppter geht es nicht! – Gegenruf der Abg. Ulli Nissen [SPD]: Gucken Sie mal in den Spiegel!)

Sie erwähnen doch tatsächlich, dass wir nicht restituieren sollten, weil die kuratorische und konservatorische Kompetenz in Afrika nicht sichergestellt sei.

(Jürgen Braun [AfD]: Geht es noch, Herr Lindh?)

Zum Ersten stimmt das überhaupt nicht. Das hätten Sie gemerkt, wenn Sie sich mal ein bisschen kundig gemacht hätten. Zum Zweiten ist es völlig irrelevant. It’s not our business. Es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu entscheiden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist nicht an uns, zu entscheiden, ob unrechtmäßig enteignete Güter in den Keller oder in den Hof gestellt, in Rituale eingespeist werden oder sonst was damit gemacht wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind nicht in der Position, Bedingungen zu stellen, Sie erst recht nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Ursula Groden-­Kranich [CDU/CSU])

Außerdem haben Sie sich ja eben wieder auf den Marxismus und postkoloniale Theorien bezogen.

Herr Kollege Lindh, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Jongen?

Ich erlaube eine Zwischenfrage; denn ich habe es ja darauf angelegt, dass diese Zwischenfrage kommt. Man kann sich darauf verlassen, dass Sie auch entsprechend reagieren. – Bitte, Ihre Frage.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vielen Dank, Herr Lindh, dass Sie die Zwischenfrage erlauben. – Meine Zwischenfrage bezieht sich auf Ihre Ausführungen, es sei nicht unser Business bzw. unsere Aufgabe, sicherzustellen, dass für diese Objekte, wohin auch immer wir sie geben, gut gesorgt sei.

Würden Sie zustimmen, dass aus Ihren Ausführungen zwingend folgt, dass es uns im Grunde egal ist, egal sein müsste, wenn diese Objekte dann in Kürze auf dem internationalen Kunstmarkt erscheinen und dort zu hohen Preisen versteigert werden? Muss uns das nicht besorgen? Müssen wir dann nicht auch besorgt sein, dass dieses kulturelle Erbe für die gesamte Menschheit verloren geht? Was sagen Sie denn zu dieser Gefahr?

Ich sage zu dieser Gefahr: Ich lerne in diesem Moment wieder, dass wir in parallelen Universen leben. Und in Ihrem Paralleluniversum hat man sich offensichtlich überhaupt nicht mit Afrika, der dortigen Kultur, den vielfältigen intellektuellen Prägungen, den Denkern und Denkerinnen, die es dort gibt, auseinandergesetzt. Was ist das für ein Ansatz, den Sie hier zeigen?

(Beifall des Abg. Timon Gremmels [SPD])

Sie unterstellen sogleich, dass die Güter auf den Kunstmarkt kommen würden. Der Witz ist nur – deshalb ist es ein Eigentor erster Güte von Ihnen –: Dieser Kunstmarkt, auch die Unwägbarkeiten und alle Deformationen sind keine afrikanische Erfindung, sondern sie sind eine zutiefst europäische.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie zeigen damit auch mustergültig, dass Ihre Sichtweise hoffnungslos eurozentrisch ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie sich ein bisschen mit afrikanischer Kunst und afrikanischen Objekten auseinandergesetzt hätten, hätten Sie verstanden, dass ganz viele Objekte davon leben, dass sie eingebettet waren in Rituale, in Prozesse und nicht dem eurozentrischen westlichen Denken eines schieren Objekts entstammen, das man in ein Museum stellt. Ihre Frage ist völlig absurd und hat überhaupt nichts mit der Realität von Kunst und der Kultur in afrikanischen Ländern zu tun.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie bemühen sich, es mir heute leicht zu machen; aber leider muss ich mich mit Ihnen aufhalten. Des Weiteren – das ist die Steigerung Ihrer Großen Anfrage ins Unermessliche – kommt tatsächlich die Frage – ich bitte alle, das nachzulesen –, ob es bei der Bundesregierung Hinweise gäbe, dass afrikanische Länder die restauratorischen bzw. kuratorischen und konservatorischen Leistungen hinreichend gewürdigt hätten. Geht es noch? Wo sind wir denn? Wir sind diejenigen, die sich mit der Schuld der Täter als deren Nachkommen auseinandersetzen wollen. Jetzt verlangen wir von den Betroffenen und den Nachkommen der Betroffenen, sie hätten unsere restauratorischen Leistungen bei gestohlenem Gut würdigen müssen. Das meinen Sie nicht ernsthaft.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Karsten Hilse [AfD]: Er hat so eine Macke! Wir sind alle schuld, und das für alle Zeiten! Also wirklich!)

Jetzt habe ich mich aber genug damit auseinandergesetzt. Sprechen wir nun über die Fragen, um die es geht. Wir brauchen insgesamt ein gesamtgesellschaftliches Erinnerungs- und Restitutionskonzept. Das ist unsere Aufgabe. Weniger kann es nicht sein. Ein Element ist die Rückgabe. Dabei geht es gar nicht darum – das fordert auch kein Mensch –, dass wir die gesamten deutschen Museen, Archive und Depots leerräumen und die Güter einfach in Afrika abstellen. Niemand will das. Es geht darum, zu begreifen, dass die Überwindung des Kolonialismus – das zeigen Sie ja – zuallererst eine Leistung im Kopf ist; denn wir müssen begreifen, dass es um die Rückgabe der Verfügungsgewalt geht. Ein Element ist die Rückgabe, wenn sie gewünscht wird. Ein anderes ist die Zirkulation von Objekten, Leihgaben. Aber wir müssen begreifen, dass es uns nicht zusteht, zu entscheiden, was mit den vielen Objekten geschieht und wie damit verfahren wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist, um es an dieser Stelle zu sagen, die zentrale und die eigentliche Aufgabe und die Herausforderung an die Gesellschaft wie an die Politik, diesen Perspektivenwechsel zu begreifen. Es sind nicht wir, die jetzt zu entscheiden haben, sondern wir müssen es in diesem Prozess schaffen, denjenigen, die betroffen waren und betroffen sind, die Möglichkeit zu geben, zu entscheiden und von Beginn an mitzubestimmen. Es ist nicht unsere Aufgabe, ihnen nach dem Prozess der Enteignung jetzt zu zeigen, wie man gefälligst mit Kulturgut umzugehen hat, wie man sich zu erinnern hat, wie Museen funktionieren, sondern wir sollten ihnen in Bescheidenheit und mit der Bereitschaft, nicht zu belehren, sondern Lehren entgegenzunehmen, die Möglichkeit geben, zu entscheiden. Das sind der Kern und das Entscheidende in diesem Prozess des Umgangs mit Kolonialismus.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau, richtig!)

Das hat nichts zu tun mit Erbarmen, nichts zu tun mit Gnade und nichts mit Belehren. In diesem Fall sind wir gut beraten, einmal die Lernenden zu sein.

Sehr geehrte Damen und Herren, deshalb ist es auch wichtig und gut, dass es diesen sehr detaillierten Antrag gibt, wenn ich auch – das erlaube ich mir – in Form wohlwollender Kritik einige Anmerkungen dazu habe, nicht zu sehr zu einzelnen Instrumenten, die sehr gut aufgezeigt sind, aber zu zwei Punkten.

Zum einen geht es um die Frage der zentralen Gedenkstätten, die eine wichtige ist, die wir auch hier in diesem Hause irgendwann diskutieren müssen – vielleicht in baldiger Zeit – und entscheiden werden. Aber ich denke, dass eine solche Gedenkstätte am Ende eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses stehen muss und dass wir sehen müssen, dass wir die Debatte hier und in den Feuilletons nicht als elitären Diskurs führen, sondern dass wir es schaffen, eine nicht-eurozentrische Perspektive mehrheitsfähig zu machen, und dass sich die Bevölkerung, die sich bisher noch nicht in der Breite umfassend mit dem Kolonialismus befasst hat – nicht in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen –, damit auseinandersetzt. Am Ende dieses Prozesses kann und sollte auch eine zentrale Gedenkstätte stehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zum anderen scheint es mir auch wichtig zu sein, dass wir nicht denken, dass wir in Form von Gedenkstätten und Ähnlichem

(Zuruf des Abg. Karsten Hilse [AfD])

unser schlechtes Gewissen und unsere Beklommenheit ruhigstellen können. Das können Orte zwar sein; aber solche Gedenkstätten sind zuerst solche, die uns betreffen. Aber die Perspektive, die wir einzunehmen wagen müssen, ist die der anderen. Daher sollten wir fragen: Was wollt ihr in den betroffenen Ländern?

(Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau, aber so steht es drin im Antrag!)

Was wollt ihr in den Herkunftsgesellschaften? Deshalb – hier haben wir keinen grundlegenden Widerspruch – war es so wichtig, dass Staatsministerin Müntefering – hier sitzt sie – bei der Rückgabe von menschlichen Überresten so eindrucksvolle Worte, Worte der Demut und Bescheidenheit gesprochen hat und dass schon Vieles auf dem Weg ist, etwa in Form einer internationalen Museumskooperation.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mitnichten so, dass wir dadurch etwas verlieren, wenn wir womöglich Dinge bzw. die Verfügungsgewalt über Dinge zurückgeben, wenn wir uns zurücknehmen und Lernende sind und andere von Beginn mitentscheiden und mitdenken lassen. Das Gegenteil ist der Fall. Am Ende dieses Prozesses – davon bin ich überzeugt – werden wir es sein, die auch gewinnen. Das ist kein Prozess zur Aufarbeitung des Negativen, sondern ein Prozess der Zukunft, in dem wir von Beginn an kooperativ arbeiten und ganz neue Möglichkeiten des Verhältnisses zwischen dem Westen und den Ländern, vor allem in Afrika, finden werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Hartmut Ebbing für die Fraktion der FDP.

(Beifall bei der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7328981
Wahlperiode 19
Sitzung 83
Tagesordnungspunkt Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus
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