Mario Mieruchfraktionslos - Vereinbarte Debatte - 70 Jahre Grundgesetz
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! 70 Jahre Grundgesetz bedeuten 70 Jahre Erfolgsgeschichte. Unser deutscher Grundrechtekatalog ist zum weltweiten Vorbild geworden. Auch wenn die meisten von uns in sein Bestehen hineingeboren wurden, so können wir stolz darauf sein und sind wahrlich gehalten, dieses Grundgesetz zu verteidigen und weiterzuentwickeln.
Ich will aber auch an den Geist des Verfassungskonvents appellieren; denn dieses Grundgesetz ist eine historische Verfassung, die aus ihrer eigenen Zeit zu verstehen ist. Die Erfahrungen der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und des beginnenden Eisernen Vorhangs prägten die Runde, die nicht aus Politikern, sondern aus Sachverständigen bestand. Ideologie und Parteipolitik spielten damals noch keine Rolle. Ich betone das, weil die Ergebnisse der Expertengruppe von Herrenchiemsee immer öfter im Gegensatz zu dem stehen, wie die heutige Politik das Grundgesetz ändern möchte. So ist es für einen Rechtsstaat aufhorchenswert, wenn führende Verfassungsrichter das Außerkraftsetzen des Artikels 16a anprangern. Und wir erleben aktuell gerade, wie Artikel 14 oder Artikel 15 aus ihrem historischen Kontext der Wiederaufbauhilfe gerissen werden, oder wie andere meinen, wieder die erste Strophe des Deutschlandliedes singen zu müssen.
In Zukunft soll der ideologische Trendsetter Klimaschutz sogar Einzug in das Grundgesetz finden, um damit Artikel 5, die Freiheit von Wissenschaft und Lehre, auszuhebeln. Meinungsfreiheit und Pressefreiheit sind in erschreckendem Zustand; denn während die eigene Meinung zu gerne von der moralisch richtigen Einstellung niedergebrüllt wird oder im gesellschaftlichen Miteinander zunehmend Ächtung erfährt, geben Teile der Presse ihre Freiheit gleich selber auf: Statt Berichterstattung verschmilzt es zu Kommentaren, oder man verfasst sofort Framing Manuals. Das Grundgesetz droht damit zum Spielball von Parteipolitik und ideologischen Grabenkämpfen zu werden. Und es besteht die Gefahr, dass wir dieselben Fehler begehen wie die EU, die mit einer Verfassung von über 200 Seiten fast jedes Detail des menschlichen Zusammenlebens regeln will. Die Amerikaner haben aus gutem Grund einen kurzen Text aus wenigen Artikeln vorgezogen, den jeder Bürger nebenbei lesen kann und der einfach und leicht für alle verständlich ist.
Wie weit Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit heute auseinanderdriften, sieht man daran, dass die Parteien mit ihrer Politik nicht mehr nur an der Willensbildung mitwirken, sondern nahezu in allen Positionen diese Willensbildung bestimmen und mittlerweile sogar direkten Einfluss auf das Bundesverfassungsgericht ausüben, indem Fraktionsvizes nahtlos in das höchste Richteramt wechseln können.
Hier im Hause steht bei jeder Abstimmung ein Fraktionsvertreter mit der richtigen Karte an der Urne. Ich erinnere mich noch an Schlagzeilen, dass in Sachen „Griechenland“ und „Euro-Rettung“
(Timon Gremmels [SPD]: Wir haben ein Koalitionsabkommen!)
mit Abweichlern Einzelgespräche geführt werden sollten: Aufhorchen lassen hat das damals keinen.
Diese Dinge laufen tragenden Gedanken unseres Grundgesetzes massiv entgegen. Und man kommt unweigerlich zu dem Schluss, dass es heute hier im Hause möglicherweise nur noch vier Parlamentarier gibt, die frei von jeglichen Zwängen sind
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Oje! – Lachen des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU])
und tatsächlich ein freies Mandat ausüben. Es wäre traurig, wenn es wirklich so wenige wären.
(Nadine Schön [CDU/CSU]: Echt traurig!)
Für die SPD-Fraktion hat nun Helge Lindh das Wort.
(Beifall bei der SPD – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Helge Lindh ist auch ganz frei! Das kann ich bestätigen!)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7355825 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 101 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte - 70 Jahre Grundgesetz |