07.06.2019 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 105 / Tagesordnungspunkt 23

Jürgen MartensFDP - Vermeintliche Hetzjagden in Chemnitz

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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon beachtlich, dass wir heute hier auf Antrag der AfD diese Debatte führen, nahezu zehn Monate nach diesen Vorgängen,

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: So lange brauchen die Antworten auf die Großen Anfragen mittlerweile!)

die eigentlich in der Sache hinreichend aufgeklärt sind.

(Jürgen Braun [AfD]: Weil die Bundesregierung Unsinn schreibt!)

Es geht Ihnen aber offensichtlich gar nicht mehr um den Gewinn irgendwelcher Erkenntnisse.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Jürgen Braun [AfD]: Wir warten auf Erkenntnisse von Ihrer Seite!)

Sie bemängeln hier die Verwendung des Wortes „Hetzjagden“ und sagen: Ja gut, da hat es eben auch mal ein paar Beleidigungen gegeben, ein paar Angriffe. – Nennen wir es dann doch einfach „Übergriffe“. Damit wäre die Sache erledigt, aus und vorbei. Schluss mit der Semantik, meine Damen und Herren. Wir könnten etwas Wichtigeres tun,

(Zuruf des Abg. Stephan Protschka [AfD])

nämlich uns den Problemen zuwenden, die dahinterstehen. Aber daran haben Sie kein Interesse.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie wollen ein Verbrechen und die darauffolgende Reaktion zum einen umdeuten und zum anderen für Ihre Zwecke instrumentalisieren.

(Leif-Erik Holm [AfD]: Die Kanzlerin hat „umgedeutet“!)

Wenn jemand, wie der Regierungssprecher, das falsche Wort – „Hetzjagd“ – verwendet – sagen wir: Übergriffe –,

(Martin Reichardt [AfD]: Was ist denn das für eine alberne Argumentation?)

dann bezeichnen Sie das als Fake News.

(Lachen und Beifall bei Abgeordneten der AfD)

Es geht Ihnen nicht um Erkenntnisgewinn. Sie wussten am 26. August um 8 Uhr morgens doch bereits alles; denn AfD-Vertreter verbreiteten über Social Media, es habe ein schlimmes Verbrechen in Chemnitz gegeben, eine – natürlich – deutsche Frau sei Opfer einer versuchten Vergewaltigung geworden

(Zuruf von der AfD: Ja, offensichtlich!)

und ein – Klammer auf: deutscher; Klammer zu – Mann, der sich dem entgegenstellen wollte, sei von – natürlich – Ausländern erstochen worden.

(Zuruf von der AfD: Ach, das war wohl nicht so?)

Das landgerichtliche Verfahren ist noch nicht zu Ende – da ist noch nichts festgestellt –, und manches, was dort erzählt wurde, hat sich im Laufe der Zeit als grundfalsch herausgestellt; aber Sie, Sie wissen ja bereits Bescheid.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD])

Sie haben nicht einmal Respekt vor der gerichtlichen Aufklärung.

(Zurufe von der AfD)

– Und da schreien Sie hier in der Gegend rum. Warten Sie doch mal in Ruhe ab, was der Rechtsstaat und seine Justiz in diesem Land herausfinden und wie sie dann urteilen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber diese Geduld und auch diesen Respekt haben Sie nicht, meine Damen und Herren.

Was in den Tagen darauf passierte, war ganz in Ihrem Sinne. Da zogen Bürger durch die Stadt und am Rande dieser Bürger eben auch schlicht Nazis. Die haben sich hingestellt, ausländerfeindliche Parolen gegrölt und den Hitlergruß gezeigt. Und das waren beileibe nicht alles Chemnitzer Bürger.

(Zuruf der Abg. Nicole Höchst [AfD])

Die kamen auch von ganz woanders her; die sind auch von ganz woanders geschickt worden. Es waren auch Chemnitzer dabei, ja. Aber wo war denn die Chemnitzer AfD in diesen Tagen? Was hat die Chemnitzer AfD gesagt zu diesem öffentlichen Verwenden der Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen, dem Zeigen des Hitlergrußes? Wo war die AfD in Chemnitz in diesen Tagen, als ein jüdisches Restaurant angegriffen und beschädigt worden ist?

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Hat man da von Ihnen gehört: „Hört auf damit!“? Man hat Sie höchstens hinter den Kulissen rumschleichen sehen – mit dem Benzinkanister der Demagogie in der Hand. Das ist das, was Sie heute wieder machen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Jürgen Braun [AfD])

Das ist die alte Strategie: Erst wird mit Fake-Meldungen Stimmung gemacht – das richtet sich vor allem gegen Minderheiten, bei Ihnen stets gegen Ausländer, vor allem gegen Muslime –, und die so erzeugte öffentliche Empörung befördert Grenzüberschreitungen. Ja, aber das ist ganz in Ihrem Sinne. Diesen Grenzüberschreitungen treten Sie nicht entgegen. Sie fördern sie weiter, bis es zu Enthemmungen und tatsächlich zu Übergriffen kommt. Und dann wird es zynisch: Diese Übergriffe schieben Sie dann in der Regel den Opfern in die Schuhe, nach dem Motto, die seien daran schuld.

(Ulli Nissen [SPD]: Echt widerlich!)

Das ist schlicht und ergreifend widerlich, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist widerlich,

(Jürgen Braun [AfD]: Wer ist in Chemnitz ermordet worden? Wer war das, Herr Martens?)

nicht nur, weil es einen Vorgang in Chemnitz betrifft; aus der Gegend komme ich; ich wohne weniger Kilometer von Chemnitz entfernt. Es wäre genauso widerlich, wenn es um ein Verbrechen im Westen, im Rheinland, in Bayern oder Baden-Württemberg, oder auch in Mecklenburg-Vorpommern gehen würde.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

Chemnitz ist nur ein willkommener Anlass, aber nicht der Grund.

(Dr. Alice Weidel [AfD]: Ich frage mich, ob Sie das wirklich glauben, was Sie da gerade von sich geben! Unglaublich!)

Wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, wenn Sie hier ein ums andere Mal versuchen, mit diesen vergifteten Debatten die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen, um die wahren Absichten Ihrer Politik zu verheimlichen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Braun [AfD]: Märchenstunde! Schlechte Märchenstunde! Sie sollten sich schämen, Herr Martens!)

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Detlef Müller.

(Beifall bei der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7362275
Wahlperiode 19
Sitzung 105
Tagesordnungspunkt Vermeintliche Hetzjagden in Chemnitz
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