26.06.2019 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 106 / Tagesordnungspunkt 2

Sabine DittmarSPD - Organspende

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche heute als Gesundheitspolitikerin und Ärztin zu Ihnen. In meiner Praxis habe ich nicht nur mit schwerkranken Patientinnen und Patienten auf der Warteliste gebangt und auf den erlösenden Anruf „Es gibt ein passendes Organ“ gehofft, sondern auch Angehörige begleitet, die in einer emotionalen Ausnahmesituation am Sterbebett eines geliebten Menschen vor der Frage standen: Organspende, ja oder nein? Wie hat mein Partner, mein Kind darüber gedacht? – Meistens war es nicht bekannt. Überlegen Sie bitte einen Augenblick: Ist Ihnen die Einstellung Ihres Partners, Ihres Kindes, Ihrer Eltern, Ihrer Geschwister zu diesem Thema bekannt?

(Zurufe: Ja!)

Meine Damen und Herren, ich habe in meinem Wahlkreis den sechsjährigen René, der dringend auf ein Spenderherz wartet. René und seine Mutter haben ihren Wohnsitz jetzt nach Barcelona verlegt, weil sie sich in Spanien schnellere Hilfe erwarten. Wenn ich heute hier stehe und aus tiefster Überzeugung für die Unterstützung unseres Gesetzentwurfs zur doppelten Widerspruchslösung werbe, dann habe ich René und jene 10 000 Patienten und Patientinnen auf der Warteliste vor Augen, die teilweise zehn Jahre und länger auf ein passendes Organ warten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN)

Auch heute werden wieder bis zu vier Menschen in Deutschland versterben, weil sie eben kein passendes Organ erhalten. Und um genau diese Menschen geht es in dieser Debatte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN)

Einen ersten Schritt haben wir mit dem Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende getan. Damit wird es gelingen, dass wir in den Kliniken mehr potenzielle Organspender identifizieren. Doch, meine Damen und Herren, das Dilemma ist trotzdem nicht aufgelöst; denn wir wissen nach wie vor nicht: Was war der Wille des Verstorbenen? Und da, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es meine feste Überzeugung, dass uns der vorgelegte Gesetzentwurf zur Entscheidungslösung keinen Schritt nach vorne bringen wird; denn er ändert nichts Grundlegendes.

(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich!)

Seit 2011 haben wir die Aufklärung über Organspende massiv intensiviert: Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung fährt diverse Kampagnen. In Apotheken und Arztpraxen erhalten Sie Organspendeausweise. Die Krankenkassen informieren regelmäßig. Übrigens sind auch die Bürgerämter und Passämter schon seit 2012 verpflichtet, auf die Organspende hinzuweisen.

(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: So ist das!)

Aber faktisch passiert nichts. Im Gegenteil: Die Zahlen werden schlechter.

Neu an der Entscheidungslösung ist neben dem Honorar für Hausärzte lediglich, dass ein Register geschaffen wird und beispielsweise beim Behörden- und Arztgang darauf hingewiesen wird, dass man sich eintragen kann. Mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, fehlen die Fantasie und der Glaube daran, dass die Entscheidungsfreudigkeit des Einzelnen dadurch erheblich zunimmt. Warum sollte jemand, der bisher keinen Organspendeausweis ausgefüllt hat, obwohl er der Organspende positiv gegenübersteht, sich nun aktiv in ein Register eintragen? Nur mehr Information, das ist mir persönlich viel zu wenig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN)

Ich bin davon überzeugt: Wenn es bei der Entscheidungslösung bleibt, werden wir in zwei, drei Jahren die gleiche Debatte wieder führen;

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

denn die Entscheidungslösung ist eine Verzögerungslösung. Aber den Menschen auf der Warteliste läuft die Zeit davon.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN)

Mit der Widerspruchslösung werden wir auch ein Register implementieren. Aber wir gehen einen deutlichen Schritt weiter: Wir setzen alle in die Pflicht, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Und ich sage hier in aller Deutlichkeit: Angesichts der dramatischen Zahlen auf der Warteliste ist es den Menschen zuzumuten, sich mit der Organspende auseinanderzusetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN)

Dies ist kein Angriff auf die Selbstbestimmung. Es gibt keine Pflicht zur Organspende – die bleibt freiwillig –; aber es gibt eine Pflicht, sich mit der Thematik zu befassen und eine Ablehnung auch zu dokumentieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN)

Dies, meine Damen und Herren, kann der Staat seinen Bürgern abverlangen. Denn es ist so, wie Karin Maag gesagt hat: Im Grundgesetz ist eine Schutzpflicht für das Leben verankert.

In Abwägung der beiden Grundrechte hat für mich das Grundrecht auf Leben einen höheren Stellenwert als das Grundrecht auf Nichtbefassung mit einer Thematik.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)

Ich bitte Sie daher um Unterstützung für den Gesetzentwurf zur Widerspruchslösung, wie wir sie in 20 von 28 Ländern und auch in den meisten Eurotransplant-Ländern haben, von denen wir übrigens sehr dankbar Organe annehmen. Dieses moralische Dilemma müssen mir die Gegner der Widerspruchslösung auch einmal erklären. Den Menschen auf der Warteliste sind wir die Widerspruchslösung schuldig und ebenso jenen, die zukünftig hinzukommen – das können schon heute oder morgen ich, Sie, Ihre Angehörigen oder Ihre Freunde sein.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Jetzt spricht zu uns die Kollegin Aschenberg-Dugnus.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7366776
Wahlperiode 19
Sitzung 106
Tagesordnungspunkt Organspende
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